KNA: Herr Professor Meier, ihr US-amerikanischer Kollege Kyle Harper führt den Untergang des Römischen Reichs unter anderem auf Wetterkapriolen und die Verbreitung von Seuchen zurück. Was halten Sie davon?
Mischa Meier (Althistoriker, Professor für Alte Geschichte an der Universität Tübingen): Es gab eine ganze Reihe von Faktoren, die hierfür eine Rolle gespielt haben. Aber man muss da schon etwas genauer hinschauen.
KNA: Mitte des 6. Jahrhunderts war es so kalt wie nie in den zurückliegenden 2000 Jahren; die justinianische Pest 541 ist einer der ersten belegbaren Ausbrüche der Seuche gewesen.
Meier: Umwelteinflüsse und die Krankheiten beschäftigen uns aufgrund der aktuelle Geschehnisse in besonderem Maße. Insofern entspricht der Ansatz von Harper in gewisser Weise dem Zeitgeist.
KNA: Aber?
Meier: Das Römische Reich litt bereits um das Jahr 400 zusehends an innerlicher Instabilität. Die Kaiserherrschaft steckte in einer Krise: Kinder erhielten die Herrscherwürde, sogenannte Heermeister übernahmen das militärische Kommando. Hinzu kamen vielfältige Regionalisierungstendenzen zwischen Britannien und Nordafrika.
KNA: Und dann traten die Hunnen auf den Plan und wirbelten alles durcheinander...
Meier: So zumindest haben Zeitgenossen versucht, sich das Geschehen zu erklären. Demnach lösten die Hunnen mit ihren Überfällen ab Ende des 4. Jahrhunderts einen Dominoeffekt aus. Sie säten Angst und Terror und zwangen andere Gruppen in die Flucht. Letzten Endes haben sie schon bestehende Entwicklungen massiv verstärkt und forciert.
KNA: Was meinen Sie damit?
Meier: An den Grenzen des Römischen Reiches bröckelte es ohnehin schon. In den 360er-Jahren gab es beispielsweise im Donauraum einen Krieg zwischen Römern und Goten. Als die Hunnen genau dort dann ab den 390er-Jahren weiter nach Westen vordrangen, trug das unter anderem zu dem großen Rheinübergang der Barbaren 406 bei.
KNA: Mitte des 5. Jahrhunderts standen die Hunnen unter ihrem Anführer Attila auf dem Höhepunkt ihrer Macht - seine Nachfolgern scheiterten allerdings dabei, die Herrschaft zu stabilisieren.
Meier: Doch selbst im Zerfall spielte Attilas Reich noch einmal eine wichtige Rolle. Das 5. Jahrhundert über waren die Hunnen als Ordnungsmacht jenseits der Donau aufgetreten und dadurch zu einem halbwegs verlässlichen Partner der Römer geworden. Als das Hunnenreich dann zusammenbrach, wurde es gefährlich, weil die Römer es plötzlich mit mobilen Kriegergruppen zu tun hatten, die nicht mehr kontrolliert wurden.
KNA: Für das komplexe Geschehen setzte sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Deutschen der Begriff "Völkerwanderung" durch - im 19. Jahrhundert führten viele Nationalstaaten ihre Ursprünge auf eben jene Zeit zurück. Taugt dieses Konzept heute noch für die Betrachtung der Umbrüche in Europa und dem Mittelmeerraum zwischen den Jahren 300 und 800?
Meier: Man hat es sich im 19. Jahrhundert einfach gemacht, indem man aus der eigenen Zeit heraus Völker in die Vergangenheit projiziert und sie dann für nationalstaatliche Vorstellungen benutzt hat. Wenn überhaupt, würde ich den Begriff "Volk" für die Spätantike nur in Anführungszeichen verwenden, besser gar nicht. Denn das, was wir heute damit verbinden, war den Menschen damals gänzlich unbekannt.
KNA: Welches alternative Raster bietet sich aus Ihrer Sicht an?
Meier: Was wir in der Spätantike sehen, sind sehr unterschiedliche Gruppierungen und Verbände. Die Alemannen und die Franken waren ganz anders strukturiert als die Hunnen und die wiederum anders als die Araber oder die Slawen. Rein ethnisch lässt sich das alles nicht fassen. Allerdings kristallisierten sich hier und da so etwas wie ethnische Identitäten heraus. Einzelne Personen oder Gruppen versuchten, sich Zugehörigkeiten zu schaffen. Sie gaben sich beispielsweise Ursprungsgeschichten. Die sind dann später aufgezeichnet worden.
KNA: Von den Römern...
Meier: Von Personen, die in römischen Kontexten nach römischen Maßstäben agierten. Von den Gruppen selbst besitzen wir keinerlei schriftliche Hinterlassenschaften.
KNA: Wie können wir dann überhaupt Aussagen über sie treffen?
Meier: Wir bewegen uns zu einem großen Teil im Bereich der Spekulationen, da wir nur begrenztes Quellenmaterial haben. Und wir sehen die "Barbaren" tatsächlich auch nur durch die römische Brille, das ist immer schon ein großes Problem.
KNA: Kann die Archäologie helfen?
Meier: Was sich über ethnische Identitäten aussagen lässt, ist in der Archäologie heftig umstritten. Da geht es um die Grundfrage, ob Einzelfunde taugen, um ethnische Interpretationen vorzunehmen. Also: Kann ich aufgrund der Beigaben oder dessen, was ich sonst in einem Grab finde, sagen, dass es sich um einen Alemannen oder ein Römer handelt? Davon abgesehen sind archäologische Funde natürlich von großer Bedeutung, um Ereignisse rund um die "Völkerwanderung" zu rekonstruieren.
KNA: In diese Epoche fällt auch die Verbreitung des Christentums und das Aufkommen des Islam. Welche Rolle spielte die Religion in jener Zeit?
Meier: Ich glaube, dass Religion ein wichtiger Faktor gewesen ist, aber in der Forschung zur Völkerwanderung bisher sträflich vernachlässigt wurde.
KNA: Können Sie das näher illustrieren?
Meier: Zeitgenossen haben das Geschehen immer und zum Teil maßgeblich in religiösen Orientierungsmustern verankert und dadurch interpretiert. Schon im frühen 5. Jahrhundert bei den ersten Auseinandersetzungen mit Goten und Hunnen brachten sie die Ereignisse mit den biblischen Endzeitvölkern Gog und Magog in Verbindung. Im weiteren Verlauf der Spätantike vor allem im Osten und seit dem mittleren 6. Jahrhundert beobachten wir, dass Religion im Alltag immer wichtiger wird. Sie bestimmt die Kommunikation und das Handeln der Menschen ganz maßgeblich. Das wiederum strahlte natürlich auch über die Peripherien hinaus.
KNA: Will heißen?
Meier: Für die Vandalen beispielsweise war Religion ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber der römischen Bevölkerung in Afrika. Sie teilten das homöische Bekenntnis mit einem eigenen Verständnis der christlichen Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist, während die katholischen Bevölkerungsteile als Römer galten. Insbesondere für die Entstehung des Islam spielten die religiösen Verhältnisse im Römischen Reich dann später auch eine wichtige Rolle. Denn die neue Bedeutung und Funktion des Religiösen, die den Aufstieg des Propheten überhaupt erst ermöglichte, hatte sich im Imperium Romanum entwickelt und strahlte von dort auf die Arabische Halbinsel aus.
KNA: In Westrom verlagerte sich der weltliche Machtschwerpunkt von Rom nach Ravenna. Welche Stellung genoss der Bischof von Rom, der heutzutage als Papst das Oberhaupt der katholischen Kirche ist?
Meier: Diese herausgehobene Stellung bildete sich erst seit dem 5. Jahrhundert heraus und blieb zunächst stark abhängig von den Einzelpersönlichkeiten, die das Bischofsamt in Rom bekleideten. Da gibt es bedeutungslose Figuren, aber auch starke Persönlichkeiten, angefangen bei Leo I. über Gelasius bis hin zu Gregor I.
KNA: Wagen wir einen Sprung in die Gegenwart. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsbewegungen fällt gern der Ausdruck einer "neuen Völkerwanderung". Was sagt der Historiker dazu?
Meier: Ich halte es für einen großen Fehler, simple Parallelen zur Vergangenheit zu ziehen. Das funktioniert nicht, weil allein die Rahmenbedingungen viel zu unterschiedlich sind.
KNA: Zum Beispiel?
Meier: Das Römische Reich ist kein Nationalstaat gewesen, und es ist auch mit Einwanderung ganz anders umgegangen, als es ein Nationalstaat tun würde.
KNA: Die innere Zerrissenheit und der äußere Machtverfall des Römischen Reichs erinnern ein wenig an die derzeitige Lage in den USA.
Meier: Vergleiche zwischen American Empire und dem Imperium Romanum gibt es ja schon länger. Aber um das tun zu können, müssen Sie sich auf eine dermaßen abstrakte Ebene begeben, dass es am Ende banal wird.
KNA: Die Menschen in der Spätantike haben ihre Lebensumstände als vielfach bedroht empfunden, Endzeitstimmung machte sich breit. Welche Schlüsse lassen sich aus der Betrachtung der Vergangenheit für die Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft ziehen - vielleicht so etwas wie Zuversicht, weil ja aus Chaos am Ende wieder etwas Neues entsteht?
Meier: Historischen Prozessen ist zu eigen, dass aus ihnen immer etwas Neues entsteht. Ob das zuversichtlich stimmt, will ich nicht beurteilen. Aber Dinge in endzeitliche Zusammenhänge zu stellen, ist jedenfalls ein sehr verbreitetes Phänomen. Das erleben wir jetzt auch bei Corona oder im Kampf gegen den Klimawandel. Ich glaube, dass es Gruppen gibt, die dadurch ihren Zusammenhalt stärken und denen es dadurch gelingt, Bedrohungen zu überwinden. Aber es wird auch Gruppen geben, bei denen solches Denken in Sackgassen führt.
Das Interview führte Joachim Heinz.