Die Reform der kirchlichen Vorschriften über Ehe und Familie, wie sie manche von Papst Franziskus erhofft, andere befürchtet hatten, ist ausgeblieben. Und doch bleibt keineswegs alles beim Alten. Sein am Freitag veröffentlichtes Schreiben "Amoris laetitia" lässt sich allerdings nicht auf einen einfachen Nenner bringen: Der Papst rüttelt nicht am Lehrgebäude der katholischen Kirche, aber er öffnet neue Zugänge dazu. So schafft er erhebliche neue Freiräume: für die Gläubigen, für die Seelsorger und für die einzelnen Bischöfe.
Das in der deutschen Fassung 185 Seiten lange Dokument ist kein Gesetzestext. Es ist eine Gebrauchsanweisung - und vor allem ein Appell zu mehr Barmherzigkeit. Der Papst zeigt darin Wege, wie Seelsorger und Gläubige selbst zu verantwortbaren Entscheidungen in moralisch schwierigen Situationen gelangen können, stets auf der Grundlage der geltenden kirchlichen Morallehre. Das letzte Wort muss allerdings, vor allem moralischen Perfektionismus, nach dem Willen von Franziskus immer die Barmherzigkeit haben.
Gewissensentscheidung des Einzelnen
Weitere Schlüsselelemente sind die Gewissensentscheidung des Einzelnen, das Prinzip der Güterabwägung, die sorgfältige Prüfung des Einzelfalls. Zugleich macht der Papst deutlich, dass er damit keinen Freifahrtschein für alle möglichen "Ausnahmen" geben möchte. Franziskus stärkt auf der Seite der Betroffenen vor allem die Rolle des Gewissens und den Seelsorgern erteilt er die Lizenz zur besonnenen Abwägung. Der Einzelne soll nicht länger durch eine allzu schematische Anwendung moralischer Vorschriften bevormundet werden.
"Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen", heißt es zu Beginn des Schreibens - nicht ohne eine gehörige Portion Selbstkritik. Die Kirche tue sich schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, "die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata auseinanderbrechen", so der Papst.
Rolle der Bischöfe und der Bischofskonferenzen gestärkt
Rom hat gesprochen. Aber damit soll die Angelegenheit diesmal ausdrücklich nicht beendet sein. Franziskus stärkt auch die Rolle der Bischöfe und der Bischofskonferenzen - wenngleich er diese Organisationen nicht ausdrücklich nennt. Nicht "alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen" müssten durch "ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden", schreibt er. Zwar sei "selbstverständlich" eine Einheit von Lehre und Praxis in der Kirche notwendig. Das schließe jedoch keineswegs aus, dass "verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden", fortbestünden. Was das konkret bedeuten kann, lässt Franziskus offen.
Auch für die besonders heftig diskutierte Frage des kirchlichen Umgangs mit wiederverheirateten Geschiedenen stellt der Papst keine allgemeingültige Regel auf. Franziskus schließt eine Zulassung zum Kommunionempfang im Einzelfall nicht aus. Er übernimmt hier weitgehend den Vorschlag der deutschsprachigen Bischöfe während der Bischofssynode zu Ehe und Familie, der auch Eingang in das Papier fand, das die Bischofssynode dem Papst vorlegte. Das letzte Wort haben so auch bei Franziskus der Beichtvater und das Gewissen der Betroffenen. Auf die Frage des Kommunionempfangs geht er jedoch - abgesehen von einer bemerkenswerten Fußnote - nicht ausdrücklich ein.
Ausnahmen für wiederverheiratete Geschiedene
Wiederverheiratete Geschiedene könnten in "gewissen Fällen" auch die "Hilfe der Sakramente" in Anspruch nehmen, heißt es dort. Franziskus deutet überdies zumindest an, dass es Einzelfälle geben könnte, in denen auch wiederverheiratete Geschiedenen, die in ihrer zweiten Verbindung nicht sexuell enthaltsam leben, die Kommunion empfangen könnten; und zwar dann, wenn die Treue in Gefahr gerate und die Kinder aus der ersten Verbindung in Mitleidenschaft gezogen würden.
Nach kirchlicher Lehre können wiederverheiratete Geschiedene bislang nur dann zur Kommunion zugelassen werden, wenn sie mit ihrem neuen Partner wie "Bruder und Schwester" zusammenleben.
"Gewisser Halt"
Auf den Umgang mit Homosexuellen und gleichgeschlechtlichen Paaren, der unter den Bischöfen ebenfalls besonders umstritten war, geht der Papst nur kurz ein. Er bekräftigt, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht der Ehe angeglichen werden dürften, betont aber zugleich, dass auch solche Formen des Zusammenlebens den Betroffenen "einen gewissen Halt geben".
Manchen Reformern dürfte das Schreiben zu wenig konkret sein, manchen Konservativen zu weitgehend. Welche Konsequenzen es hat, hängt nun auch von den Bischöfen, Seelsorgern und Gläubigen ab.