Vor 100 Jahren starb der Sozialpolitiker Franz Hitze

Der "agitierende Kaplan"

Der Priester Franz Hitze war einer der bedeutendsten Sozialpolitiker der deutschen Kaiserzeit. Besonders der Arbeiterschutz lag dem Zentrumspolitiker am Herzen. Sehr zum Unmut von Reichskanzler Otto von Bismarck.

Autor/in:
Anselm Verbeek
Franz Hitze / © Privat (KNA)
Franz Hitze / © Privat ( KNA )

Der Reichskanzler war gar nicht erfreut. Vehement lehnte Otto von Bismarck im Februar 1890 weitere sozialpolitische Initiativen ab, welche die Mehrheit des Reichstags forderte. Mit seiner weltweit einmaligen Sozialversicherung glaubte er die Möglichkeiten staatlicher Sozialpolitik ausgeschöpft.

Trotzdem beharrte ein Zentrumspolitiker auf umfassendem Arbeiterschutz: Franz Hitze - Priester und führender Sozialpolitiker der Kaiserzeit. Vor 100 Jahren - am 20. Juli 1921 - erlag er einem chronischen Herzleiden. Bismarck war der Sozialexperte ein Dorn im Auge.

Sehr zu seinem Verdruss war Hitze vom jungen Kaiser in den Staatsrat berufen worden, wo die sozialpolitischen Gesetze beraten wurden. Bismarck echauffierte sich über den "agitierenden Kaplan". Ohnehin uneins mit Wilhelm II. über Sozialistengesetz und Sozialpolitik, trat er schließlich als Reichskanzler zurück.

Internationale Arbeiterschutz-Konferenz

Der Kaiser berief die erste Internationale Arbeiterschutz-Konferenz nach Berlin; im Reichstag kam eine neue Gewerbeordnung zustande. Die Novelle bündelte die gesamte Bandbreite von Arbeiterschutz, woran Hitze wesentlichen Anteil hatte: der Sonntag als Ruhezone in der Sieben-Tage-Woche, Verbot von Kinderarbeit, Begrenzung der Arbeitszeit vor allem für Frauen, Arbeiterausschüsse als Vorläufer der Betriebsräte und Gesundheitsschutz.

Seit 1882 im preußischen Abgeordnetenhaus

Seit 1882 saß Hitze im preußischen Abgeordnetenhaus, seit 1884 im Reichstag. Franz Hitze wurde am 16. März 1851 in eine wohlhabende Bauernfamilie geboren. Begeistert vom Vorbild des "Gesellenvaters" Adolph Kolping und des "Arbeiterbischofs" Wilhelm Emmanuel von Ketteler hatte er sich als Schüler eines Paderborner Gymnasiums im Selbststudium in die Soziale Frage eingearbeitet.

Überzeugt, dass im Verhältnis von Kapital und Arbeit eine Schieflage entstanden war, konnte er der Kapitalismuskritik von Karl Marx weit folgen. Wie Bischof Ketteler sympathisierte er mit der Produktiv-Genossenschaft, einem Mitbestimmungsmodell.

Der Textilfabrikant Franz Brandts in Mönchengladbach entdeckte den sozialpolitisch aufgeschlossenen Kaplan. Er machte 1880 Hitze zum Generalsekretär des Verbands "Arbeiterwohl". Der Theoretiker der Sozialpolitik ging bei dem Unternehmer in die Lehre.

Gladbach wurde zum Experimentierfeld, zur Teststrecke für die sozialpolitischen Anträge des Zentrums im Parlament. Brandts konnte Hitze wohltätige Einrichtungen seines Betriebs zeigen: eine Krankenkasse, eine Darlehenskasse, bezahlbare Wohnungen für die Belegschaft und einen Arbeiterausschuss zur Selbstverwaltung und Streitschlichtung.

Kantine und Werkskindergarten

Unter dem Dach der Fabrikantenvilla St.-Josefs-Haus waren sogar Kantine und Werkskindergarten untergebracht. Bei seiner Verbandsarbeit für «Arbeiterwohl» besuchte Hitze die Katholikentage. Er verwies auf die Erfahrungen im Musterbetrieb und bemühte sich, neben Unternehmern vor allem den Pfarrklerus zu gewinnen.

Arbeitervereine entstanden auf Grundlage der Pfarreien; "Arbeiterpapst" Leo XIII. unterstützte sie. 1890 wurde zum Epochenjahr, als sich der Papst in seiner Sozialenzyklika "Rerum novarum" für das Streikrecht als letztes Mittel im Arbeitskampf aussprach.

Die Geburtsstunde des Volksvereins

1890, im Jahr der sozialpolitischen Wende des Kaisers und des Papstes, wurde auch der "Volksverein" ins Leben gerufen. Geburtshelfer war zuvorderst Zentrumsführer Ludwig Windthorst, der eine Massenbasis für seine organisatorisch schwache Partei brauchte.

Der Volksverein ruhte auf den Schultern von Brandts und Hitze und leistete vielseitige Bildungsarbeit. Vor dem Weltkrieg hatte der Volksverein über 800.000 Mitglieder. Neben Gladbach und Berlin beackerte Hitze seit 1893 ein drittes Tätigkeitsfeld: Er wurde der erste Inhaber des Lehrstuhls für christliche Gesellschaftslehre an der Universität Münster.

Dort ist heute die Katholisch-soziale Akademie Franz-Hitze-Haus nach ihm benannt. Hitzes Jugendideal blieb sein Lebensziel: die gesellschaftliche Emanzipation und Integration der Arbeiterschaft. Bis zuletzt im Reichstag tätig, zimmerte der Sozialpolitiker mit an der Weimarer Koalition von Zentrum und Sozialdemokratie - über weltanschauliche Gräben hinweg.


Quelle:
KNA