"Nikolaus ist, wenn Wünsche erfüllt werden. Ihr wolltet ihn - ihr kriegt ihn. Gesundheitsminister @Karl_Lauterbach." Da werden zwei Heilige in einem Tweet des designierten SPD-Generalsekretärs Kevin Kühnert genannt, könnte man fast sagen. Denn der Ernennung von Karl Lauterbach war ein Twitter-Gewitter unter dem Hashtag #wirwollenkarl vorausgegangen, der einer Heiligsprechung in der Blase des Kurznachrichtendienstes gleichkommt. Santo subito in der Social Media-Version quasi.
"Sehnsucht nach Heiligen, nach Erlösung?"
Gibt es in Zeiten der Pandemie eine neue Sehnsucht nach Heiligen, nach Erlösung? Ja, sagt der Passauer Religionspädagoge Hans Mendl. Und mahnt zugleich zur Vorsicht.
"Je größer die Unsicherheit, desto größer der Wunsch nach Personen, die das Heil bringen", sagt er. Der Ruf nach dem starken Mann sei nicht ungefährlich. Der Theologe aus der niederbayerischen Bischofsstadt nähert sich als Wissenschaftler dem Phänomen der Heiligen. Ganz praktisch heißt das für ihn, dass er sich immer wieder auf deren Spuren begibt. Erst vor wenigen Tagen habe er sich mit seinen Studierenden auf eine Exkursion ins italienische Assisi vorbereitet, um sich nicht nur räumlich einem der berühmtesten Heiligen zu nähern.
Paradox der Heiligen
An Franziskus werde das Paradox der Heiligen deutlich: "Er war faszinierend und furchteinflößend zugleich." Denn so sehr seine radikale Armut die Menschen angezogen habe, so sehr sei sie auch beängstigend gewesen. Übertragen auf die heutige Zeit macht das auch ein Blick auf die markanten Personen in der Pandemie deutlich, etwa Lauterbach oder den Virologen Christian Drosten: Sie polarisieren, sind für die einen Heilige, für die anderen so etwas wie der Leibhaftige. Zwischentöne finden sich selten.
Dabei sind gerade die biblischen Gestalten keine, die sich in die Kategorien schwarz oder weiß einordnen lassen, wie der Religionspädagoge betont. "Petrus hat sich zu Christus bekannt und ihn verraten, Moses war ein Mörder und wurde doch von Gott erwählt." Das Internetzeitalter habe es noch einmal schwieriger gemacht, ein unangefochtener Held zu sein, so der Professor. Das zeige sich auch an Drosten oder Lauterbach. Die Welt sei zu komplex für einfache Antworten. Viele hätten Probleme mit dem wissenschaftlichen Vorgehen des Abwägens, des ständigen Überprüfens von Thesen.
Komplexität der Welt reduzieren
Hier setzt auch die Argumentation von Gunther Hirschfelder an. Er spricht von der Sehnsucht, die Komplexität der Welt zu reduzieren. Doch gerade Menschen wie Drosten oder Lauterbach leisteten genau das nicht, betont der Regensburger Kulturwissenschaftler. Heilige in der Kirche hätten auch ganz im Gegensatz zu den Pandemie-Erklärern vor allem die bildungsfernen Schichten angesprochen, denen die große Theologie zu komplex gewesen sei.
"Moderne Eremiten"
Daher sieht der Professor vom Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft bestenfalls eine funktionale Nähe. "Drosten und Lauterbach sind eher die modernen Eremiten." Sie lebten teils zurückgezogen, hätten eine Botschaft und täten eine Menge, um die Welt zu retten. "Der Rückzug in die Wüste ist heute das Labor", sagt Hirschfelder. Bei Karl Lauterbach ist es die Lektüre der neuesten Corona-Studien bei einem Glas Wein am Abend. "Der moderne Mensch schafft keine Heiligen", ist der Kulturwissenschaftler überzeugt. Bestenfalls gebe es Legenden, etwa Marilyn Monroe oder Franz Beckenbauer.
Die Suche nach Helden
Theologe Hans Mendl dagegen sucht nach Helden, aber nicht nach den großen. Sein Projekt "Local heroes" interessiert sich für die des Alltags, etwa Lebensretter oder Menschen, die anderen Mut machen. "Helden wohnen nebenan." Auch die Pflegenden auf der Intensivstation seien das, sagt Mendl. Keiner von ihnen muss perfekt sein, denn: "Der postmoderne Held ist ein gebrochener Held."