domradio.de: Herr Bischof, 1986, da waren Sie Anfang 30 und lebten als Mönch bei den Benediktinern in Plankstetten. Welche persönlichen Erinnerungen haben Sie denn eigentlich an diesen 26. April 1986? War Ihnen damals schon die Dramatik dessen klar, was da in Tschernobyl passiert ist?
Gregor Maria Hanke, Bischof von Eichstätt: Die Dramatik war mir sehr wohl klar, aber ich möchte mit einer existenzielleren Erfahrung beginnen: Ca. 12 Jahre später durfte ich mit einer kleinen Gruppe nach Minsk in Weißrussland reisen. Dort war es möglich, ein Heim für von Tschernobyl geschädigte Kinder zu besuchen. Ich sah diese Kinder, die unheilbar krank waren und diese Kinder spielten uns zu Ehren in einem kleinen Orchester wunderschöne Musik. Die Leiterin des Heimes sagte uns nach dieser Vorführung: "Wenn Sie in einigen Monaten wiederkommen, wird wahrscheinlich keines dieser Kinder mehr leben". Ich erinnere mich heute noch, wie mir das in die Knochen gefahren ist. Daran wurde mir deutlich, welche Auswirkung Tschernobyl hatte.
domradio.de: Damals, nach diesem Super-GAU, war Atomausstieg für die Politik erst mal kein Thema. Auch nach der Katastrophe von Fukushima vor einigen Jahren setzen fast alle europäischen Staaten, außer Deutschland, auf Atomkraft. Warum werden diese Katastrophen nach wie vor ignoriert, obwohl ja die Folgen so dramatisch und so absehbar sind, wie Sie es geschildert haben?
Hanke: Ich denke, die Utopie, die Technik mit immer höheren Sicherheitsstandards in den Griff zu bekommen, diese Utopie steckt nach wie vor in den Köpfen vieler Wissenschaftler. In der Politik versucht man den möglichst leichtesten Weg der Energiegewinnung zu gehen. Alles in allem ist dieser Weg der Energiegewinnung aus Atomkraft aber ein Weg zu Lasten der nachkommenden Generationen, der Zukunft. Denn die Frage nach der Entsorgung ist bis heute nicht geklärt. Stellen Sie sich einmal die Zeitleiste vor: Wir hätten heute Umweltfolgen zu bewältigen, die vor 2000 Jahren verursacht worden sind. So muss man sich das mit dem Atommüll vorstellen. Die Nachhaltigkeit der Gefährlichkeit des Atommülls wird ganze Generationen über Jahrhunderte noch beschäftigen. ich halte das für schlichtweg unverantwortlich, sozusagen auf Kosten und zu Lasten der nachfolgenden Generationen heute diesen Weg zu gehen.
domradio.de: In Deutschland geht ja im Jahr 2022 der letzte Meiler vom Netz. Also hier ist der Atomausstieg beschlossene Sache, das hat die Bundesregierung nach Fukushima umgesetzt. Wie bewerten Sie die Art und Weise des Atomausstiegs in Deutschland?
Hanke: Ich denke, die ganze Frage der Energiewende – das muss man ja als großes Paket sehen – die war gut gemeint, aber mir scheint, dass es etwas an der Regie gefehlt hat und immer noch fehlt. Nur wenn die alternativen Energien vorangetrieben werden, kann man natürlich von einer Bereitschaft ausgehen, von der Atomenergie Abschied zu nehmen. Denn die Atomenergie ist eben "billig", weil das Teure unsere nachkommenden Generationen dann blechen müssen.
domradio.de: Da muss man aber auch sagen, wir in Deutschland sind wenigstens schon den ersten Schritt gegangen, dass der Atomausstieg festgesetzt wurde.
Hanke: Das ist begrüßenswert, das halte ich für sehr begrüßenswert! Und ich war auch sehr dafür, dass Fukushima endlich als Signal verstanden wurde, hier konkrete Schritte in die richtige Richtung zu gehen.
domradio.de: Aber der Super-GAU vor 30 Jahren hat gezeigt, dass Strahlung nicht an Grenzen halt macht; alle unsere Nachbarn setzten nach wie vor auf Atomkraft. Sie zum Beispiel im Bistum Eichstätt: Sie sind gar nicht so weit entfernt vom AKW Templin in der Tschechischen Republik, das ja doch als sehr unsicher gilt. Und kurz hinter der Schweizer Grenze gibt es das AKW Bezau, das ist das älteste AKW der Welt. Haben die Menschen bei Ihnen in der Region, im Bistum, die Sorge, dass es noch mal zu so schlimmen Zwischenfällen kommen könnte?
Hanke: Ich kann jetzt nicht repräsentativ sprechen, aber ich persönlich zucke immer wieder zusammen, wenn ich von irgendwelchen Störfällen in Atommeilern höre; auch Templin hat ja schon gehörig von sich reden gemacht und ich fürchte, dass die Technik einfach nicht in den Griff zu bekommen sein wird. Irgendwann kann so etwas wie in Tschernobyl wieder passieren und großen Schaden zufügen.
domradio.de: Sie haben ja immer schon diese Meinung vertreten, dass man eben auch auf die Endlichkeit der Ressourcen achten muss und dass das ganze natürlich auch etwas mit Schöpfung zu tun hat, die man achten muss, die man bewahren soll. Inwiefern fühlten Sie sich durch die Enzyklika von Papst Franziskus, Laudato Si', bestätigt?
Hanke: Diese Enzyklika ist natürlich eine großartige Steilvorlage! Es waren ja schon die Vorgängerpäpste zugange, sowohl bei Papst Johannes Paul II. als auch bei Papst Benedikt XVI. finden sich wichtige Gedanken und Aspekte des Umweltschutzes, des rechten Umgangs mit der Natur. Allerdings gab es bislang noch nie eine Enzyklika, die das Zusammenhängen zum Thema gemacht hat. Und zwar nicht im Sinne eines erhobenen Zeigefingers – das finde ich bei Laudato Si' so schön – sondern als Einladung für das gemeinsame Haus des Lebens Sorge zu tragen. Dieser Aspekt der Freude, der Dankbarkeit, der die Enzyklika durchzieht, der ist mir vor allem sehr sehr wichtig. Denn unsere ökologischen Gruppierungen und Bewegungen der letzten Jahrzehnte haben ja doch manchmal sehr stark mit Angstszenarien operiert. Franziskus setzt nun bei der Schönheit an, bei der Schönheit der Schöpfung, die es zu bewahren gilt, die es zu hegen gilt aus Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber. Das halte ich für einen ganz wichtigen Aspekt.
domradio.de: Wenn sich nun der 30. Jahrestag des Unglücks von Tschernobyl jährt, was ist Ihre Botschaft an die Menschen?
Hanke: Mein Wunsch ist, dass wir ähnlich wie es im frühen Christentum ja Gang und Gäbe war, bereit sind, einen dezidiert christlichen Lebensstil zu entwickeln. Der christliche Lebensstil war geprägt von Bescheidenheit; ein Leben zu führen, dass die Grenzen, die Endlichkeit dieses Systems anerkennt. Wir verbrauchen schlichtweg zu viel Energie, zu viele Ressourcen. Wir leben auf Kosten der nachkommenden Generationen. Wenn wir uns hier nicht kritisch hinterfragen und bereit sind, einen Einschnitt zu machen – wir dürfen nicht der Versuchung erliegen uns so zu benehmen, als sei dieses System unendlich, als könnte man herausholen, was man nur herausholen möchte. Das funktioniert nicht.
Das Interview führte Ina Rottscheidt