Als erste Institution in Deutschland hat die katholische Kirche eine Vereinbarung mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch beschlossen.
Im Kampf gegen sexualisierte Gewalt kann sie zur Blaupause für andere Einrichtungen werden. In der evangelischen Kirche etwa oder in Schulen und Sportvereinen steht eine solche Erklärung noch aus.
Nachdem sich die Bischofskonferenz im März in der Frage der Entschädigung auf ein neues System geeinigt hatte und Opfern bis zu 50.000 Euro zahlen will, ist sie damit auch auf dem Weg zur Aufarbeitung einen Schritt vorangekommen.
Gemeinsame Erklärung
Die Bistümer müssen nun die Kriterien und Standards umsetzen. Die gemeinsam mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, erarbeitete Vereinbarung umfasst acht Seiten.
Hinter dem sperrigen Titel "Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland" verbirgt sich nicht weniger als die Verpflichtung der Bischöfe, Missbrauch in ihren Bistümern nach festgelegten und transparenten Regeln aufzuarbeiten.
Im Zentrum stehen dabei Kommissionen, die nun in allen Bistümern eingesetzt werden und in denen neben Vertretern des Bistums sowie Experten aus Wissenschaft, Justiz und Verwaltung auch Betroffene sitzen sollen.
Koordinierte Zusammenarbeit der Bistümer vereinbart
Bis zur Unterzeichnung war es ein langer Weg: Es brauchte rund ein Jahr intensiver Verhandlungen, bis sie unterschriftsreif war. Erste Gespräche begannen Ende 2018 nach der Veröffentlichung der MHG-Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche. Ende 2019 verständigten sich Rörig und der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann, dann auf Eckpunkte. Um letzte Formulierungen wurde bei der Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz im März und bei einer weiteren Sitzung Ende April gerungen.
Die Aufarbeitung soll sich auch mit jenen Fällen befassen, die infolge von Verjährung oder dem Tod der Beteiligten nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden können. Neben der quantitativen Erhebung von Missbrauch soll untersucht werden, wie die Verantwortlichen in den Bistümern mit den Tätern und den Betroffenen umgegangen sind. Auch sollen Strukturen benannt werden, die sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch Geistliche und Kirchenangestellte ermöglicht oder begünstigt haben.
Vereinbart ist eine koordinierte Zusammenarbeit der Bistümer untereinander. Eine eigene Geschäftsstelle bei der Bischofskonferenz soll unter anderem gemeinsame Termine absprechen und ein Monitoring koordinieren. In fünf Jahren ist dann ein Abschlussbericht geplant.
Kritik schon vor der Unterzeichnung
Nach der Unterzeichnung soll sich jedes der 27 Bistümer zu den verpflichtenden Standards bekennen. Rörig hat dazu Gespräche mit den Bischöfen aufgenommen. Wenn es in einzelnen Bistümern schon eine umfassende Aufarbeitung gibt, kann der Bischof nach Verständigung mit Rörig eine angepasste Erklärung unterzeichnen, die die bisher geleistete Arbeit berücksichtigt. Einen konkreten Zeitplan für die Umsetzung und die Einsetzung der Kommissionen gibt es allerdings noch nicht.
Bereits vor der Unterzeichnung gab es Kritik - zum einen vom Betroffenenrat im Erzbistum Köln, zum anderen vom Jesuitenpater Klaus Mertes, der als Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin wesentlich dafür sorgte, dass der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche öffentlich wurde. Beide bemängeln, dass der Einfluss der Bischöfe bei der Aufarbeitung nach wie vor zu groß sei. Die Bischöfe sollten auf die Zusammensetzung der Kommissionen besser keinen Einfluss ausüben, schreibt Mertes etwa in einem Beitrag für die "Herder-Korrespondenz".
Wie gut und unabhängig die Aufarbeitung tatsächlich funktioniert, wird sich bald zeigen. Ein erster Test für die Vereinbarung könnte die Aufarbeitung der bekannt gewordenen Missbrauchsvorwürfe in der ehemaligen katholischen Jugendeinrichtung Piusheim bei München werden. Die katholischen Orden sind in der Vereinbarung noch nicht berücksichtigt, mit der Ordensobernkonferenz nimmt Rörig dazu nun Gespräche auf.