Nach wenigen Minuten ist der Mann in der Handwerkermontur und dem Schlapphut fertig. Gunter Demnig braucht nur ein paar Handgriffe, dann hat er fünf sogenannte Stolpersteine in das vorgefertigte Loch im Fußweg verlegt. Die Lücken werden mit einer Masse gefüllt, dann putzt Demnig die je zehn Quadratzentimeter kleinen Messingtafeln mit einem Papiertaschentuch sauber. Sie erinnern an fünf Mitglieder der jüdischen Familie Silberbach, die früher in dem Haus direkt an dem Fußweg im Kölner Stadtteil Marienburg wohnten. Die Nazis hatten sie aus ihrem Zuhause vertrieben.
Am 27. Oktober wird der Erfinder der Stolpersteine Gunter Demnig 75 Jahre alt - und immer noch setzt er die meisten Steine selbst. Kommendes Jahr wird der 100.000-ste darunter sein. Sie tragen die Namen von NS-Opfern, von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, von Menschen mit Behinderung und politisch oder religiös Verfolgten. Oft sind sie vor deren letzter frei gewählter Wohnstätte verlegt. Mittlerweile gibt es sie in 31 Ländern, darunter Frankreich und die Niederlande. Stolpersteine gelten heute als das größte dezentrale Mahnmal der Welt.
Pionierarbeit vor 30 Jahren
Nach rund 30 Jahren ist das Verlegen für Demnig immer noch nicht zur Fließbandarbeit geworden, wie er erzählt. Etwa zwei Drittel des Jahres sei er in Sachen Stolpersteine unterwegs. Das Einsetzen der Steine könne er zur Not im Dunkeln, die Schicksale dahinter aber seien einzigartig. "Es kommt so viel an Positivem zurück, dass es mir immer noch Freude macht. Bei allem Hintergrund, der nicht zur Freude veranlasst."
Sein Lebensprojekt hat auch etwas mit seiner persönlichen Geschichte zu tun. Zwei Jahre nach Kriegsende geboren wuchs Demnig in der DDR und später in Westberlin auf. Aus seinem Vater, der als Soldat in Frankreich gedient hatte, sei über den Krieg "nie etwas herauszuholen gewesen", sagt er. Und in der Schule habe der Geschichtsunterricht bei der Weimarer Republik aufgehört.
Politische Kunstaktionen
Den öffentlichen Raum nutzte Demnig bereits für mehrere Kunstaktionen. 1968 hisste er während des Vietnamkriegs eine US-Flagge in Berlin - mit Totenköpfen statt Sternen. 1991 legte er die "Spur der Erinnerungen": eine Farbspur in Köln, die die Deportationswege der Sinti und Roma nachzeichnete. Eine Frau sprach ihn an und war der Meinung, hier "hätten doch gar keine Zigeuner gewohnt". So sei Demnig bewusst geworden, dass es mehr Projekte über die Geschichten der Vertriebenen und Ermordeten brauchte.
Seinen ersten Stolperstein verlegte er vor rund 30 Jahren ohne Genehmigung vor dem Rathaus in Köln. In der Domstadt hatte er jahrelang sein Atelier. Ein Bekannter berichtete kurze Zeit später über die Aktion in einem Kunstprojekte-Buch, das mit dem Begriff "Größenwahn" betitelt war. "Ich dachte: ja passt doch", sagt der Bildhauer mit einem Lachen. Ebenfalls ermutigt habe ihn ein Kölner Pfarrer mit den Worten: "Die Million wirst du wohl nicht schaffen, aber man kann ja klein anfangen."
Weltweite Bedeutung der Stolpersteine
Zur Verlegung für die Silberbachs, die Ende der 1930er-Jahre nach Amerika flohen, ist eine Nachfahrin aus den USA angereist. Terry Mandel schmückt die frisch verlegten Steine mit Blumen, dann steckt sie Demnig eine persönlichen Dankesbrief zu. Später erzählt die zierliche Frau mit dem grau-melierten Kurzhaarschnitt von ihrer Familiengeschichte. Eine Schulklasse ist anwesend, auch die heutigen Besitzer des früheren Silberbach-Hauses. Mit Blick auf den Künstler sagt Mandel: "Diese Steine haben sein Leben verändert und das Leben von Millionen Menschen auf der ganzen Welt."
Zuspruch von Angehörigen habe er von Anfang an erhalten, sagt Demnig. Also habe er beschlossen, weiterzumachen. Bis heute. Finanziert werden die Steine über Patenschaften, die Einzelpersonen, Schulen oder Vereine für etwa 130 Euro übernehmen können. Auch nach 30 Jahren ist die Nachfrage hoch. Aktuell ist Demnig bis August 2023 ausgebucht.
Zu seinen Terminen bringt der Künstler mittlerweile ein Polster für den Boden mit. Er wolle so lange weitermachen, wie es ihm die Knie erlaubten, sagt er. Für die Zeit danach hat er die Stiftung Spuren Gunter Demnig im hessischen Alsfeld gegründet. Auch heute schon müsse er nicht mehr jeden Stein selbst verlegen. Zum Beispiel helfe seine 28 Jahre jüngere Frau mit. Was die Zukunft seines Lebenswerks angeht, zeigt sich Demnig überzeugt: "Das geht weiter."