"Um den ganzen Sinn und die Macht der Schönheit Fontenays zu erfassen, muss man sich ihm Schritt für Schritt nähern, über die Waldpfade, im Oktoberregen, quer durch das Brombeergestrüpp und die Schlammlöcher - mühsam eben." So rät der Historiker Georges Duby (1919-1996); und so entspräche es auch dem Geist der Zisterzienser: ans Ende der Welt zu wandern, um sich in der Zurückgezogenheit der Wildnis ganz Gott zu weihen. Stattdessen spucken klimatisierte Reisebusse ihre Touristenladungen direkt vor der Eingangspforte aus, mitten ins 12. Jahrhundert.
In Fontenay ist die Regel des heiligen Benedikt Stein geworden. Die Architektur spiegelt den Geist in vollendeter Form. Papst Innozenz III. (1198-1216) nannte die Abtei ein "Weltwunder". Ora et labora, bete und arbeite - wohl nirgends ist das oberste Gebot des Benedikt von Nursia so anschaulich wie hier in Fontenay. Zu arbeiten gab es wahrlich genug: Trockenlegen der Sümpfe, Roden, Aufbau von Landwirtschaft und Fischereibetrieb. Arbeit, in der Antike etwas für Sklaven, war für die Zisterzienser ein Weg der Gnade.
Die Reform der Reform
Der Zisterzienserorden wurde 1098 in Citeaux bei Dijon vom Benediktinerabt Robert von Molesme gegründet. Die eigentliche Initialzündung fiel aber 1112 mit dem Eintritt eines jungen Adligen, nach dem später ein ganzes Jahrhundert benannt werden sollte: Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Charismatiker und Organisator, verhalf er der strengen Satzung der Zisterzienser in kürzester Zeit zum Durchbruch in ganz Europa.
Das Zisterziensertum war die Reform der Reform - eine Gegenbewegung zu den Cluniazensern. Von Cluny, ebenfalls in Burgund, war im 10. Jahrhundert die erste mächtige Reformwelle ausgegangen. Doch die Rückkehr zu den Idealen des Benedikt von Nursia funktionierte allzu gut: Die Reichen und Mächtigen der Zeit hofften mit ihren Investitionen in die frommen Mönche von Cluny auf Dividenden im Jenseits. Zugeschüttet mit Privilegien, Land und immer neuen Tochterklöstern, erstickte die Armutsidee im Reichtum gut versorgter "Gebetsbeamter".
Gegründet am 29. Oktober 1118
Das sollte den Zisterziensern nicht passieren. Scharenweise folgten junge Männer dem neuen Ruf nach totaler Armut und Abgeschiedenheit. Zurück zu den Wurzeln: Die Mönche rodeten und beackerten ihr Land selbst. Die früheste dieser Einöd-Gründungen, die sich nahezu schadlos durch die Jahrhunderte gerettet hat, ist Fontenay, gegründet am 29. Oktober 1118, im Jahr sechs des Bernhardinischen Zeitalters.
Kein Stein in Fontenay ist umsonst gesetzt, alles ist Funktion. Die Wärmestube liegt direkt neben dem Skriptorium, der Schreibstube - damit die Finger nicht zu klamm wurden. Vom Kreuzgang führt ein Durchgang direkt zur Feldarbeit; vom Dormitorium (Schlafsaal) in den Chor der Kirche sind es nur ein paar Schritte - schließlich ging das Chorgebet ab 1 Uhr nachts schon wieder los. Überhaupt: der Schlafsaal. Ein Meisterwerk monumentaler Schlichtheit. Bis zu 300 Mönche lagen hier über 56 Meter in Reihe ausgestreckt auf einfachen Strohmatten. Ihr Schlafanzug: die Kutte des Tages, Arbeitskleidung und Sonntagsgewand in einem. Der Zisterziensermönch entkleidete sich nie.
Karg und schmucklos
Die Kirche, karg und schmucklos, kaum aufwendiger als die Schmiede. Ein riesiger Leerbau zur höheren Ehre Gottes. Ornamente, Prachtentfaltung sucht man hier vergebens. Jeglicher figürliche Schmuck ist für Bernhard ein Übel, da er die Fantasie anrege und so den Blick auf Gott verstelle. In nur acht Jahren erbaut, wurde die Basilika 1147 von Papst Eugen III. geweiht, einst selbst Mönch in Clairvaux; in Anwesenheit von zehn Kardinälen, acht Bischöfen, von Bernhard von Clairvaux und Hunderten Mönchen. Der größte Aufmarsch in der Geschichte der abgeschiedenen Abtei.
Im Alltag regierte eine alle Lebensbereiche umfassende Kargheit, oder, wie ein mittelalterlicher Chronist beschreibt: "Die Zisterzienser treten die Blumen der Welt mit den Füßen des Vergessens, sehen Reichtümer und Ehre als Mist an, schlagen mit der Faust des Gewissens in das Gesicht vergänglicher Dinge." Für diese Konsequenz wurden sie in der Regel nicht älter als 35 Jahre alt.
Die Wende unter der Krone Mitte des 16. Jahrhunderts
Die Disziplin verfiel, als die französische Krone Mitte des 16. Jahrhunderts weltliche Äbte einsetzte; auswärtige Adlige, die das längst reich gewordene Kloster als persönliche Pfründe bewirtschaften ließen. Schon 1790, bevor der Klostersturm der Revolution seine volle Raserei erreichte, verließ der letzte Mönch Fontenay. Der spirituelle Schatz des 12. Jahrhunderts wurde zur Papierfabrik umfunktioniert - ein Umstand, dem die Gemäuer letztlich ihr Überleben verdanken.
1820 erwarb die Familie Montgolfier das Anwesen; und es war auch ein Nachkomme der Familie, der die modernen Fabrikgebäude 1906 abreißen und den ursprünglichen Zustand wiederherstellen ließ. Heute dient das einstige Kloster, bereits seit 1981 Unesco-Weltkulturerbe und immer noch in Familienbesitz, nicht selten als Kino-Kulisse - etwa für die Schlusssequenz der Depardieu-Verfilmung von "Cyrano de Bergerac".
Wer hier am Ende der Visite ein paar Schritte geht, der gelangt vielleicht an jene Quelle, von der eine alte lateinische Inschrift spricht: "Was siehst du dir an, Reisender, den jede Verspätung ungeduldig macht? Du suchst den geheimnisvollen Namen dieses Hauses, das auf einer verborgenen Welle schwimmt ... Wenn du auf der Flucht vor der verdorbenen Welt in dieses Haus schwimmen kommst, so wirst du den Namen erfahren: Fontenay."