DOMRADIO.DE: Das Benzin im Land ist knapp und die Inflation ist mit 2.900 Prozent eine der höchsten der Welt. Schritt für Schritt hat Präsident Maduro in den vergangenen Wochen und Monaten das Parlament entmachtet und immer mehr Macht an sich gerissen. Immer wieder gibt es daher im Land Proteste, die meist blutig ausgehen, weil die Sicherheitskräfte brutal dagegen vorgehen. Allerorten kommt es zu Unruhen und auch zu Plünderungen.
Sie waren gerade dreieinhalb Wochen lang in Venezuela unterwegs. Was haben Sie da erlebt?
Reiner Wilhelm (Referent beim katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat): Es war eine Situation vor Ort, die mich bis heute nicht loslässt. Ich habe Menschen gesehen, die im Müll nach Essen suchen. Vor Ort muss man teilweise Geldscheine kaufen, weil zu wenig Geld im Umlauf ist. Es gibt kaum noch Fahrzeuge auf den Straßen, weil viele stillgelegt sind, weil es an Reparaturen oder Ersatzteilen fehlt oder weil es kein Schmieröl gibt und das in einem Land, wo die Menschen auf dem Öl sozusagen leben.
Man sieht viele Menschen schmuggeln, damit sie überleben können. Der Monatslohn der Menschen liegt zwischen zwei bis drei Euro. Die handelsüblichen Preise sind dabei ähnlich hoch wie unsere in Europa oder Deutschland. Das Geld reicht vorne und hinten nicht. Auf der anderen Seite habe ich sehr viel Solidarität gesehen. Man setzt sich zusammen, man kocht und isst zusammen, damit man halbwegs gut über den Tag kommt.
DOMRADIO.DE: Die Kirche in Venezuela hat sich gerade in einem Schreiben zu der aktuellen Situation geäußert, die Bischöfe verurteilen Maduros Politik und dramatische Versorgungssituation im Land. Das ist schon ungewöhnlich politisch, oder? Wie reagiert die Regierung darauf?
Wilhelm: Die Regierung hat bisher auf die Äußerungen der Kirche überhaupt nicht reagiert. Aber die Kirche ist die einzige Stimme, die sich in diesem Land noch erheben und auf die aktuelle Notlage aufmerksam machen kann. Die Regierung sagt, es gibt kein Problem, wir haben keine Notlage, es gibt überall Medikamente und Lebensmittel zu kaufen. Aber die Situation sieht natürlich ganz anders aus.
Die einzige Situation, in der die Regierung mal reagiert hat, war, als sie sich angegriffen fühlte während der großen Wallfahrt im Januar. Dort haben zwei Bischöfe die Situation angeprangert. Dies wurde landesweit übertragen und daraufhin hat Maduro dann auch Hasstiraden gegen die Kirche losgelassen und versucht, beide Bischöfe zu verklagen. Der Vorfall ist im Sande verlaufen, aber man sieht daran auch, dass auf beiden Seiten die Nerven blank liegen.
DOMRADIO.DE: Venezuela hat die reichsten Erdölvorkommen des Kontinents. Maduros Vorgänger, Hugo Chávez, ebenfalls ein Sozialist, war mit dem Versprechen angetreten, sich für die Ärmsten einzusetzen. Was ist schief gegangen mit dem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts"?
Wilhelm: Die Korruption sieht man überall. Also Sozialismus hin oder her, das spielt überhaupt keine Rolle. Die Menschen versuchen zu überleben. Es gibt die Menschen, die durch den Sozialismus reich geworden sind. Die Reichen sind reich geblieben. Das System selber ist so korrupt, dass nur eine kleine Elite davon profitiert und die haben so viel Geld in die eigenen Taschen gesteckt, dass nichts mehr für das Gemeinwohl übrig geblieben ist.
DOMRADIO.DE: Am 20. Mai sollen Präsidentschaftswahlen in Venezuela stattfinden. Was erwarten Sie davon?
Wilhelm: Die Wahlen sind ein großes Thema. Die Frage ist natürlich, ist es sinnvoll, gerade jetzt Präsidentschaftswahlen auszurufen, obwohl der Präsident noch bis Anfang nächsten Jahres im Amt bleiben wird. Maduro versucht mit allen Mitteln, sich an der Macht zu halten. Zurzeit ist die Situation noch zu handhaben, weshalb die Menschen noch für ihn stimmen werden. Aber an sich ist es nicht sinnvoll, die Wahlen vorzuziehen.
DOMRADIO.DE: Kann überhaupt noch irgendjemand die Lage beruhigen oder steuert Venezuela auf einen Bürgerkrieg zu?
Wilhelm: Ich sehe die Lage sehr ruhig. Die Menschen haben die Möglichkeit auszuwandern. Das haben inzwischen vier bis fünf Millionen Menschen getan. Die Tatsache, dass es so ruhig bleibt, hat damit zu tun, dass die Bevölkerung von Verwandten aus dem Ausland mit Geld versorgt wird. Sie haben somit durchaus die Möglichkeit, mit eigenem Mitteln etwas zu kaufen, wenn auch wenig. Wenn sie keine Möglichkeiten mehr haben, können sie das Land noch verlassen.
DOMRADIO.DE: Wie versucht Adveniat als katholisches Lateinamerika-Hilfswerk, die Menschen zu unterstützen?
Wilhelm: Wir sind dabei, genau in diesen Tafeln zu helfen, den Menschen etwas zu geben wie Fleisch und Proteine, damit sie nicht ganz abmagern. Die Menschen haben teilweise bis zu elf Kilo in den letzten zwei Jahren verloren. Des Weiteren versucht Adveniat über die Hilfen, die wir Schwestern den Priestern geben, dass die Kirche vor Ort sein kann und dem Volk beistehen kann.
Das Interview führte Silvia Ochlast.