domradio.de: Sie sind kurz vor den Protesten zurück nach Deutschland gereist. Wie war die Stimmung als Sie Brasilien verlassen haben?
Norbert Bolte (Brasilien-Referent des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat): Im Moment habe ich in Brasilien eine sehr angespannte Stimmung erlebt. Die Menschen sind sehr aufgerührt und angespannt. Es gibt Anzeichen von Hass, Gewalt und Bedrohung sowie Kriminalisierung von sozialen Bewegungen und Menschen, die sich in der Gesellschaft organisieren und für Grundrechte einstehen. Das Land ist im Moment in einer schweren Krise.
domradio.de: Normalerweise protestieren die Bürger gegen die Politik, aber in diesem Falle für Ihre Politiker. Warum?
Bolte: Man muss sich vor Augen halten, dass Brasilien seit Jahrhunderten ein tief gespaltenes Land ist. Es gibt Menschen, die in diesem Land die wirtschaftliche und politische Macht haben. Das heißt aber nicht automatisch, dass sie an der Regierung sind.
Und es gibt Menschen, die über Jahrhunderte Verlierer eines gespaltenen Systems geworden sind. Vor diesem Hintergrund spalten sich auch die Demonstrationen. Es gibt immer mal wieder Demonstrationen gegen die Regierung und welche, die die Regierung stützen. Das ist das Kennzeichen dieses Landes, was wirklich in oben und unten, in reich und arm, schwarz und weiß geteilt ist.
domradio.de:. Ist an dem Vorwurf von Korruption was dran?
Bolte: Hier werden zwei Dinge miteinander in Verbindung gebracht, die so ohne weiteres gar nicht zusammen gehören. Denn auf der formalen Ebene gibt es Amtsenthebungsverfahren, dass aber inszeniert scheint. Dort wird der formale Vorwurf erhoben, sie habe gegen das Haushaltsgesetz verstoßen. Tatsächlich hat sich aber seit den Präsidentschaftswahlen 2014 die Opposition massiv gegen die Präsidentin organisiert und möchte das Verfahren nutzen, um sie politisch aus dem Amt zu kippen. Das hat zunächst mit Korruption nichts zu tun.
domradio.de: Sondern das ist Taktik?
Bolte: Das ist zunächst einmal ein bewusst gewähltes Mittel um die alte Ordnung wiederherzustellen, die bis 2002 auch galt. Dann kam erstmals mit der Vorgängerin eine ins Amt, die nicht der Oberschicht angehörte.
domradio.de: Welche Rolle spielt die Kirche und die brasilianischen Bischöfe bei den Protesten?
Bolte: Die Brasilianischen Bischöfe habe ich so erlebt, dass sie sich massiv gegen Korruption aussprechen. Die gibt es in Brasilien, das kann man nicht leugnen. Sie plädieren auch immer wieder dafür die Grundrechte, also die Gesetze einzuhalten, die schließlich nach 30 Jahren Prozess der Demokratisierung das Resultat gewesen sind, an denen die Kirche auch mitgewirkt hat. Da möchte sie auch heute dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden.
domradio.de: Wie steht es denn um die Meinungsfreiheit in Brasilien?
Bolte: Es ist im Prinzip unproblematisch, den Menschen ist das Demonstrationsrecht zugesichert. Aber sie laufen immer wieder Gefahr - zum Beispiel von Staatsorganen - gar nicht unterstützt zu werden. Bei den Protesten 2013 hat die Polizei massiv mit Gewalt eingegriffen. Das war in diesem Jahr zum Glück nicht so. Soweit mir das bekannt ist, gab es keine solche Auseinandersetzungen.
Schauen wir uns in Bezug auf Meinungsfreiheit auch die Medien an, ist das anders. Die Medien sind in Brasilien in der Hand der Oberschicht. Das was die ärmeren Leute betrifft, das findet man dort nicht wiedergespiegelt.
Das Interview führte Silvia Ochlast