DOMRADIO.DE: Wieso nehmen Sie bei Adveniat dieses Jahr Flucht und Migration in Lateinamerika besonders in den Fokus?
Pater Martin Maier SJ (Hauptgeschäftsführer des katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat): Flucht und Migration sind in Lateinamerika ein brennendes Thema. Es sind mehr als 20 Millionen Menschen in Lateinamerika auf der Flucht. Viele versuchen, nach Norden in die USA zu kommen.
Es gibt aber auch eine wachsende Binnenmigration in Lateinamerika selbst. Allein in Kolumbien mit einer Gesamtbevölkerung von etwa 50 Millionen Menschen leben über 2 Millionen Flüchtlinge aus Venezuela – dem Nachbarland.
DOMRADIO.DE: Wir haben das Thema auch hier in Europa. Die Europäische Union macht ihre Außengrenzen dicht. Der Papst hat gesagt, das Mittelmeer sei eines der größten Massengräber der Welt. In ganz Europa gewinnen die Populisten Wahlen mit der Ablehnung von Migration und Einwanderung. Warum sollten sich die Deutschen für Geflüchtete in Lateinamerika interessieren?
Maier: Die Fluchtfrage ist eine globale Frage. Und die Fluchtursachen sind sozialer Natur, Armut, Hunger. Aber es gibt auch immer mehr Klimaflüchtlinge. In Lateinamerika nehmen die extremen Wetterereignisse zu, und das alles hat auch mit uns zu tun.
Deutschland ist auf Zuwanderung angewiesen. Die Agentur für Arbeit sagt, wir brauchen im Jahr mindestens 400.000, um die Arbeitsplätze, die bei uns jetzt besetzt werden müssen, zu besetzen.
Abgesehen davon ist es auch eine humanitäre und eine menschliche Frage. Wir haben als reiches Land die Pflicht, denen Zuflucht zu geben, die verfolgt werden und aus Armut in die Flucht getrieben werden.
DOMRADIO.DE: Wir sehen gerade hier in Europa, was das für einen sozialen Sprengstoff birgt. Die Populisten gewinnen damit Wahlen, indem sie sagen: Wir wollen die Flüchtlinge nicht. Ist es nicht schwierig, diese Forderungen zu stellen, wenn man gleichzeitig weiß, dass man die Menschen damit nicht mitnehmen kann?
Maier: Die Populisten in Europa instrumentalisieren die Flüchtlinge. Und wir sollten hier einfach mal bei den Zahlen bleiben. Wir haben 2015 in Europa von einer Flüchtlingskrise geredet, als etwa 2 Millionen Flüchtende an die Türen Europas geklopft haben.
Ein Land wie Kolumbien nimmt allein schon 2 Millionen Flüchtlinge aus Venezuela auf – mit Problemen, mit Schwierigkeiten, das ist klar. Aber trotzdem: Es gibt diese Art von Fremdenfeindlichkeit, wie wir das in Europa und auch in Deutschland erleben, so in Lateinamerika nicht.
DOMRADIO.DE: Was glauben Sie, woran liegt das?
Maier: Es liegt wahrscheinlich daran, dass die Länder Lateinamerikas selbst eine Geschichte von Migration und Flucht haben. Viele sind in Lateinamerika eingewandert. Das ist noch im geschichtlichen Gedächtnis. Natürlich spielt die Sprache auch eine Rolle. Lateinamerika hat im Wesentlichen zwei Sprachen: Spanisch und Portugiesisch. Von daher ist auch die Integration nicht so herausfordernd wie in Europa.
Aber noch einmal: Es geht um Menschlichkeit und es geht um das Recht auf Migration. Es geht um das Recht, dass diese Menschen auch menschenwürdig aufgenommen werden und leben können.
DOMRADIO.DE: Adveniat fördert zahlreiche Projekte in Lateinamerika, die Migranten und Geflüchtete unterstützen, wo es Hilfe gibt für die Menschen, die auf der Flucht sind. Sie selber waren vor Ort in Darién. Was haben Sie da erlebt, als Sie sich diese Region angeschaut haben?
Maier: Der Darién-Dschungel ist ein tödliches Nadelöhr. Das ist ein Dschungel, der Kolumbien mit Panama verbindet. Es gibt dort aber keine befestigten Wege. Die Menschen müssen 100 Kilometer durch die Wildnis. Sie müssen Flüsse überqueren, die auch immer wieder Kinder und alte Menschen mit sich reißen. Es gibt wilde Tiere.
Das Schlimmste überhaupt sind bewaffnete Banden, die die Flüchtenden überfallen, erpressen und die Frauen vergewaltigen. Das ist unvorstellbar, was Menschen dort durchmachen müssen.
DOMRADIO.DE: Was ist die prägendste Erinnerung, die Sie jetzt noch im Kopf haben von diesem Besuch im Darién? Was ist Ihnen da bis heute noch im Kopf geblieben?
Maier: Mir sind vor allem die Zeugnisse von Menschen, die es geschafft haben, im Gedächtnis geblieben. Die haben geschildert, was ihnen auf dem Weg alles begegnet ist.
Einer erzählte, wie ein Baum auf eine Gruppe von Flüchtlingen gefallen ist und wie einem der Flüchtenden der Arm abgerissen wurde. Und die Erzählungen von Frauen, die auf dem Weg überfallen und vergewaltigt werden. Das ist unerträglich, wenn man das geschildert bekommt.
DOMRADIO.DE: Was möchten Sie den deutschen Katholiken, die Sie ja in den Weihnachtsgottesdiensten um Spenden bitten, für eine Botschaft mitgeben?
Maier: Ich möchte den deutschen Katholiken die Botschaft unserer Weihnachtsaktion ans Herz legen. "Flucht trennt. Hilfe verbindet." Flucht trennt Menschen von ihren Familien, von ihrem Freundeskreis, von ihrem gewohnten Lebensumfeld.
Mit der Zusammenarbeit unserer Partner und Partnerinnen in Lateinamerika ist es möglich zu helfen. Da ist es möglich, ihnen zumindest für Tage ein Dach über dem Kopf zu geben und eine warme Mahlzeit und Sie auch anzuhören in dem, was Sie erlebt haben. Das ist möglich mit der Unterstützung von Adveniat. Das ist möglich mit den Spenden, die wir am 24. und 25. Dezember in den Weihnachtsgottesdiensten anvertraut bekommen.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.