DOMRADIO.DE: Hat es Sie überrascht, dass mit Tim Lochner in Pirna erstmals ein Kandidat der AfD Oberbürgermeister geworden ist?
Dr. Thomas Arnold (Leiter der Katholischen Akademie des Bistums Dresden Meißen): Nein, aber es hat mich trotzdem schockiert. Es war absehbar. Im ersten Wahlgang lag er schon vorn. Insofern war auch absehbar, dass er Oberbürgermeister werden könnte.
Wir waren schon im Frühsommer zu einer Veranstaltung in Pirna gewesen, wo mir mehrere Leute erzählten, die AfD lege es bewusst darauf an, den ersten Oberbürgermeister in Pirna installieren zu können. Denken Sie an Görlitz, da war es vor einigen Jahren auch schon mal versucht worden. Da ist es nicht gelungen. Jetzt ist es gelungen.
Die AfD hat auch nach so einer Stadt gesucht, um sie als Vorzeige-Symbol zu schaffen und hat vorher auch mächtig Kräfte bewegt, um das zu schaffen.
Ich finde es schon interessant – Professor Vorländer, Politikwissenschaftler aus Dresden hat am Montag schon darauf aufmerksam gemacht, dass es auch eine Strategie der AfD sein könnte, parteilose Kandidaten zu installieren. Um zu sagen: Da gibt es Menschen wie du und ich, die sind nicht in einer Partei gebunden, die scheinen noch mal bürgerlicher aus der Mitte der Gesellschaft. Aber am Ende stehen sie trotzdem für diese Partei.
DOMRADIO.DE: Aber da kommt es ja am Ende auch darauf an, wie tickt denn dieser Kandidat? Wie tickt denn Tim Lochner, der zwar parteilos ist, aber dennoch für die AfD angetreten ist? Gibt es da Hinweise?
Arnold: Ich selbst habe Tim Lochner noch nie getroffen, aber das, was ich aus den Medien entnehmen kann, ist er ein Tischlermeister aus Pirna. Es ist davon auszugehen, dass er gut vernetzt ist in der Stadt. Er ist ursprünglich in der CDU gewesen, infolge der Migrationssituation im Jahr 2015/2016 ist er aus der CDU ausgetreten, aber nicht aufgrund der Bundespolitik, sondern weil es Streitereien in der Stadtpolitik gab. Er hat sich dann schon für 2019 in der AfD-Fraktion im Stadtrat angesiedelt und dafür wählen lassen. Und jetzt ist er zum Oberbürgermeister von Pirna gewählt worden.
DOMRADIO.DE: Die beiden großen Kirchen äußerten sich nach der Wahl mit großer Sorge. Regelmäßig positionieren sich sowohl die evangelische wie auch die katholische Kirche in Deutschland gegen die AfD oder gegen die Inhalte dieser Partei. Wird dies von der Bevölkerung in Sachsen als legitim eingestuft oder eher als Bevormundung der Wähler empfunden?
Arnold: Wir tun gut daran, das ist ja auch ein Wert der Demokratie, Wahlergebnisse als Kirchen anzuerkennen. Aber es steht uns auch zu, die Ergebnisse zu bewerten.
Zum einen sind 53 Prozent Wahlbeteiligung mindestens 40 Prozentpunkte zu wenig. Ich hoffe und erwarte, dass eine Gesellschaft, die die Demokratie schätzt, sich bei diesem Mindestmaß, was man an Demokratie bewirken kann, einbringt: nämlich das Kreuz zu machen und seine Stimme für eine Partei abzugeben.
Zum anderen betrachten wir es als Kirche mit Sorge, wenn eine Partei wie die AfD solche Erfolge erzielt. Dann muss man inzwischen auch klar sagen: Nein, wir als Kirchen wollen nicht, dass die AfD gewinnt, weil sie nicht nur vom Verfassungsschutz in Sachsen als rechtsextrem eingestuft wird, sondern weil wir sie auch mit ihren Auffassungen in der Gesamtheit nicht mittragen können. Mit ihren Äußerungen, mit Teilen der Partei, die wirklich auch aus dem rechtsextremen Milieu entstammen, können wir sie nicht in der Mitte des parteipolitischen Spektrums der Bundesrepublik verorten.
Deswegen, denke ich, ist es auch richtig, dass die Kirchen warnen und sagen: Wehret den Anfängen! Wir müssen konstatieren: Diese Partei hat nicht den Dreh in die Mitte gefunden, sondern eher den Dreh weiter nach außen.
Denken Sie nur an Höcke und die Flügel-Diskussion, an die vielen Parteivorsitzenden, die sich verabschiedet haben, weil die Partei immer rechtsextremer wurde.
Das ist also alles keine Überraschung. Wir sind auch nicht mehr am Anfang, sondern wir sind an einem Punkt, wo man sagen muss, Pirna wird nicht die letzte Stadt mit AfD-Oberbürgermeister gewesen sein. Aber wir können es nicht stehenlassen, ohne widersprochen zu haben, sondern es ist auch eine Aufgabe der Kirche, aus ihrem Menschenbild heraus für andere politische Richtungen in der Mitte der Gesellschaft einzutreten und vor allen Dingen darauf zu achten, dass die AfD nicht zur selbstverständlichen Mitte wird und ihre Positionen als selbstverständlich und richtig angesehen werden.
DOMRADIO.DE: Es ist ja nicht so, dass die Kirchen jetzt ganz geschlossen gegen die AfD stehen. Es gibt auch Kirchenmitglieder, die mit der AfD sympathisieren, sie wählen oder sich sogar in dieser Partei engagieren. Was denken Sie, vor welche Herausforderungen stellt dies die verantwortlichen Seelsorger in den Kirchengemeinden?
Arnold: Der Bischof von Dresden-Meißen, Heinrich Timmerevers, hat erst vor wenigen Wochen öffentlich gesagt: Natürlich ist diese Situation auch in unseren Gemeinden da. Und deswegen ist es gut und richtig, wenn man Menschen in den Argumenten stärkt.
Da wird sich die Akademie für einsetzen, da werden sich andere Bildungsbereiche der Bistümer sicher für einsetzen, Angebote schaffen, wo sie auch noch einmal ein Verständnis vom christlichen Menschenbild zur Verfügung gestellt bekommen, um in Diskussionen auch bestehen zu können. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist, dass man auch die Debatten in Gemeinden aushalten muss und nicht überharmonisieren darf. Die fromme Schokosoße drüber ist eben nicht der richtige Weg. Sondern diese Streitigkeiten, die Diskussion, wie die Gesellschaft in Zukunft gut gestaltet werden kann, muss auch in der Kirche geführt werden.
Und den dritten Punkt sage ich aus der Perspektive als ostdeutscher Bürger, wir hatten da 1989/90 ganz viel positive Erfahrungen gemacht: nämlich Menschen aus der Mitte der Gemeinden zu motivieren, sich in Parteien, in Politik, in Institutionen der Gesellschaft einzubringen, daran mitzuwirken, dass etwas anders gestaltet werden kann in dieser Gesellschaft.
Wenn ich das aus der Ferne richtig beobachte, ist dieser Wahlkampf in Pirna auch mit Bundespolitik geführt worden. Der Oberbürgermeister von Pirna wird kaum die Bundespolitik beeinflussen können. Das gehört zur Wahrheit dazu. Er wird wahrscheinlich die Bundespolitik eher als Sündenbock heranziehen. Aber natürlich ist die Situation im Moment auch schwierig im Land, weil viele Fragen der Bundespolitik Verunsicherung schaffen.
Dass die Transformation ansteht mit Blick auf Ökologie, ist klar. Aber jetzt ist die Frage: Wie gelingt Vertrauen durch Verlässlichkeit? Wie werden Probleme gelöst, so dass sie auch für die Bürgerinnen und Bürger im Land sinnstiftend sind? Dass sie Dinge in Kauf nehmen, die Verzicht oder Einschränkung bedeuten und trotzdem erkennen, dass es einen Sinn ergibt, weil es dadurch uns und anderen in Zukunft besser gehen wird. Ich glaube, das ist die große Herausforderung, vor der jetzt alle Parteien stehen. Und deswegen kommt es nicht auf Floskeln an, sondern das muss sich jetzt in einem guten demokratischen Kampf in der Mitte der Gesellschaft beweisen.
DOMRADIO.DE: Im nächsten Jahr findet in Erfurt der Katholikentag statt. Bislang fährt ja das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) den Kurs , dass kein AfD-Vertreter zu einer Veranstaltung eingeladen werden soll. Kann man sich das in einem Bundesland leisten, wo die AfD so stark ist, wenngleich auch vom Verfassungsschutz als erwiesenermaßen rechtsextrem eingestuft wird?
Arnold: Manche Ihrer Leserinnen und Leser wissen vielleicht noch, dass die Akademie unter meiner Leitung im Jahr 2016 mit Alexander Gauland (AfD) und Thomas Sternberg (damals Präsident des ZdK; Anm. d. Red.) diskutiert hatte, dass ich mich auch für das Podium im Jahr 2018 sehr dafür ausgesprochen hatte, die AfD zu beteiligen. Man bleibt in einer Dilemma-Situation, weil natürlich sofort der Vorwurf entsteht, man schließt aus. Und trotzdem – im Jahr 2023, angesichts des Rechtsdrehs, von dem ich eben schon sprach, finde ich es legitim, wenn beim Katholikentag keine Mandatsträger auf Podien eingeladen werden, weil sie sich aus dem demokratischen Diskurs eindeutig verabschiedet haben.
Es ist Zeit, Kante zu zeigen. Und deswegen bin ich dafür und spreche mich auch klar dafür aus, dass beim Katholikentag 2023 auch in einem Land, wo Landtagswahl ist, auch in einem Land, wo im Moment die Wahlumfragen bei über 30 Prozent für die AfD liegen, Mandatsträger auf Podien nichts zu suchen haben.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.