DOMRADIO.DE: Viele Menschen kommen jeden Tag zu uns nach NRW und auch ins Erzbistum. Wie hilft die "Aktion Neue Nachbarn" bei dieser Herausforderung?
Dr. Frank-Johannes Hensel (Diözesancaritasdirektor im Erzbistum Köln und Leiter der "Aktion Neue Nachbarn"): Das erste, was oft gesucht wird, ist natürlich eine Bleibe. Und genau da kommen wir auch schon zu einem Hauptproblem, weil wir ja gar nicht ohne Ende Unterkünfte haben. Die Messehallen sind jetzt schon über das Wochenende gefüllt worden. Die geflüchteten Menschen kommen noch sehr unverteilt an, das heißt in bestimmten Regionen und Städten ganz viele, in anderen noch ganz wenige.
Aber was wir bieten können - gerade hier in der katholischen Kirche im Erzbistum Köln - ist eine schon aufgestellte "Aktion Neue Nachbarn". Aufgrund der letzten Fluchtbewegungen haben wir dieses Unterstützungsnetzwerk schon gebaut, mit Integrationsbeauftragten in allen Dekanaten. Wir sind schon drin in den Koordinierungs- und Krisenstäben der Kommunen. Wir haben schon Sammel-Aufrufe zum Melden von Wohnraum. Wir haben schon eine Homepage, die berät, die Informationen gibt, was man bei privater Unterbringung beachten muss.
Wir sind also deutlich vorbereiteter und aufgestellter. Wir haben rund 10.000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer.
DOMRADIO.DE: Dennoch unterscheidet sich die Situation heute von der vor sieben Jahren. 2015 waren viele Menschen an der Grenze zu Ungarn gestrandet, während die Bundesregierung die Entscheidung getroffen hat, die Menschen aufzunehmen. Was ist anders als 2015?
Hensel: Zwei Dinge ganz besonders: Das eine ist, dass es erstmal sehr ungeregelt und im privaten Bereich los ging. Das heißt, viele Menschen sind angekommen - auch ungezählte - weil es hier verwandtschaftliche Verbindungen gibt. Dazu kommt nun, dass schwungweise täglich mehrere Hundert Menschen in Städten wie Köln und Düsseldorf jetzt etwas geregelter dazu kommen, meistens aus Polen oder auch aus der Slowakei.
Das sind jetzt andere Bewegungen. Es kommt schwungweise und es wird sich in den nächsten Wochen noch aufbauen. Je nachdem, wie sehr der Konflikt weitergeht, wird es rein quantitativ schon noch mal eine ganz andere Angelegenheit werden, als es damals war.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, dass einige Dinge zu beachten sind, die wichtig sind, wenn man privat Menschen aufnimmt. Viele wollen helfen und vielleicht auch die eine oder andere Familie aufnehmen. Was müssen diejenigen beachten?
Hensel: Zunächst versucht man auch seiner Ohnmacht zu begegnen, lässt sich berühren und nimmt Leute zu sich. Und das ist wunderbar. Wir schaffen es auch gar nicht, nur mit öffentlichen Maßgaben dem ganzen Furchtbaren zu begegnen und helfen.
Nur ist es so: Es braucht natürlich auch Zeit. Es braucht Raum. Es braucht einen abgeschlossenen Raum. Und die Annahme, dass dieses nur kurz und vorübergehend ist, wird vermutlich nicht tragen. Man wird also miteinander feststellen, dass man sich länger aufeinander einstellen muss. Denn jemanden zurückgeben in eine Sammelunterkunft wird sehr, sehr schwer sein - auch innerlich.
Und dann kommen da Menschen, die haben schon schwerste Erlebnisse hinter sich oder werden hier noch traumatisiert, indem quasi Frauen verwitwen, Kinder verwaisen. Das wird alles geschehen. Wer das zu Hause tragen kann, leistet einen ganz großen Dienst am Nächsten.
Aber dazu braucht es Unterstützung. Wir wollen die geben. Wir bieten jetzt entsprechende Kurse an. Wir haben einen Leitfaden zur privaten Unterbringung. Sie finden unter "Aktion Neue Nachbarn" ganz viel Hilfeleistung, gerade auch für diese privaten Unterkunftssituationen.
DOMRADIO.DE: Was haben Sie bislang von den Menschen mitbekommen, die hier aus der Ukraine ankommen? Wie finden die sich zurecht? Man hört, die Verständigung sei schwierig. Die Menschen sprechen kaum Englisch.
Hensel: Ja, wobei es gerade in der weiterführenden Schule als Wahlfach auch Deutsch gibt. Es gibt schon mehr Anknüpfungen. Es gibt im Umfeld etwas mehr Menschen, die die Sprache können. Das ist anders als bei der letzten Fluchtbewegung, dass man mehr Hilfe finden kann.
Wir haben es auch leichter, Dolmetscher zu finden. Auch in den jüdischen Gemeinden finden wir viele, die die Sprachen können. Und es gibt eben viele Verwandte und Bekannte, die sich hier engagieren, auch viele russischstämmige Menschen, die hier bei uns sind und sich jetzt engagieren, die das schrecklich drückt, was da geschieht. Insofern gibt es da mehr Hilfe.
Was die Menschen sehr, sehr prägt, ist natürlich erstmal, dass sie quasi aus dem Leben gepurzelt sind, dass in so kurzer Zeit alles auf den Kopf gestellt wurde. Sie hatten ein ganz normales Leben, wie wir auch. Sie hatten ihre Arbeit, ihre Familie, die Kinder gingen in Kindergarten oder Schule. Sie werden sogar jetzt noch oft in der Ukraine im Homeschooling beschult.
Und sie haben vor allem eine stete Sorge um die Angehörigen, die sie zurückgelassen haben. Das bohrt sehr bis hin zu einem schlechten Gewissen: Durfte ich das tun? Konnte ich das tun? Das zerrt.
Das Interview führte Tobias Fricke.