Wenn die Wirklichkeit kompliziert ist, wollen Menschen einfache Erklärungen und eine geht so: Bill Gates will mit Corona die Menschheit dazu zwingen, sich impfen zu lassen und die Rothschilds finanzieren ihn.
Die jüdische Bankiersfamilie wird für vieles verantwortlich gemacht, der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung ist nicht tot zu kriegen; er hält sich, seit Anfang des 20. Jahrhunderts "Protokolle der Weisen von Zion" kursierten, jene Legende von einem jüdischen Geheimbund, der nach der Weltmacht strebt. Obwohl schon kurz danach als Fake News enttarnt, hält sich die Geschichte von der jüdischen Weltverschwörung seitdem hartnäckig.
Heute gehen Rechte, Linke und solche, die sich als Mitte der Gesellschaft bezeichnen, Seite an Seite auf die Straße, um gegen die staatlichen Corona-Beschränkungen zu protestieren und zunehmend mischen sich dort auch antisemitische Motive unter: Teilnehmende heften sich gelbe Sterne mit der Aufschrift "nicht geimpft" oder "CoV-2" an die Brust oder recken Plakate in die Höhe, auf denen sie einen Impfstoff als "Endlösung der Coronafrage" bezeichnen.
Solche und andere Vorfälle dokumentiert ein neuer Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern. Allein bei der Hälfte aller aktuellen Kundgebungen in Bayern habe man so etwas beobachtet, so Nikolai Schreiter, Mitarbeiter von RIAS Bayern, der an dem Bericht mitgeschrieben hat.
Kommt die neue Weltordnung?
Nicht alle Demonstranten seien Antisemiten und nicht alles sei explizit judenfeindlich, erklärt er, aber oft sei die Rede von einer "Neuen Weltordnung" – kurz "NWA", von "Globalisten" oder der amerikanischen "Ostküste", das seien gewissermaßen Chiffren. "Was mich erschüttert", sagt Schreiter im DOMRADIO.DE-Interview, "ist die Anzahl der Menschen, die gegen die Regierung demonstrieren, aber offensichtlich auch kein Problem haben, wenn da solche Verschwörungsmythen verbreitet werden."
"Wer auf eine Demonstration geht, wo Impfungen mit Konzentrationslagern gleichgesetzt werden, muss sich fragen lassen, ob er nachgedacht hat oder ob er sich da den falschen Leuten andient", fügt Michael Blume hinzu, Religionswissenschaftler und Beauftragter des Bundeslandes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus.
Blume hat schon lange vor Corona auf den Zusammengang zwischen der sogenannten "Impfverschwörung" und klassischen antisemitischen Motiven hingewiesen: "Das zieht sich durch die Geschichte", sagt er im DOMRADIO.DE-Interview. Als im Mittelalter die Pest ausbrach, warf man den Juden vor, sie hätten die Brunnen vergiftet, um Christen zu töten. In den 1950er Jahren behauptete Stalin, jüdische Ärzte wollten die sowjetische Führung ausschalten. "Der Antisemitismus ist tief verwurzelt in unserem Denken", erklärt Nikolai Schreiter. Vor allem in Krisenzeiten träten diese Muster immer wieder als Erklärung auf.
Hitler war auch nur ein Handlanger?
Ein relativ neues Phänomen ist der "libertäre Antisemitismus", bei dem sich rechte und rechtspopulistische Parteien und Bewegungen auf freiheitliche Werte berufen und behaupten, diese würden durch eine große Verschwörung bedroht. "Die leugnen den Holocaust nicht mehr, sondern behaupten, die Juden hätten ihn selbst organisiert", erklärt Religionswissenschaftler Blume. Gemäß dieser verschwurbelten Vorstellung war selbst Hitler gekauft; mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wollte man so die Gründung des Staates Israel erzwingen.
Durch Internet und Messenger-Dienste verbreiten sich solche Ideen genauso schnell wie Corona, längst sind die Anhänger nicht mehr nur einige Wenige. So verkauft sich beispielsweise das Buch "Die Rothschilds: Eine Familie beherrscht die Welt" bestens; darin fabuliert der Autor Tilman Knechtel über die jüdische Bankiersfamilie, die im Hintergrund von Politik und Wirtschaft weltweit die Strippen zieht: "Ihr Ziel ist ein alles vernichtender Dritter Weltkrieg und eine Weltregierung", heißt es da, "gesteuert aus Jerusalem."
Trump als Erlöser
"Baron Totschild gibt den Ton an", singt der deutsche Popstar Xavier Naidoo in einem seiner Lieder. Kürzlich veröffentlichte er ein Video, in dem er von einer Sekte sprach, die Kinder entführe und deren Blut als Droge verkaufe: Teil eines Mythos, den die "QAnon"-Bewegung vorantreibt: Sie beruft sich auf einen vermeintlichen Whistleblower aus dem Weißen Haus, der behauptet, alle westlichen Demokratien seien von Verschwörern unterwandert und Donald Trump würde das jetzt zerschlagen.
Im Mittelalter habe man Juden und Frauen unterstellt, sie würden Kinder entführen, um aus ihnen "Hexensalbe" zu gewinnen, erklärt Religionswissenschaftler Blume: "Jetzt hoffen die Menschen nicht mehr auf Jesus, sondern dass Donald Trump derjenige sein wird, der die Verschwörung zerschlägt." Seinen Schätzungen zufolge haben solche Ideen im Internet inzwischen zigtausende Anhängerinnen und Anhänger.
Jahrhunderte alte antisemitische Motive von "den Juden" als "Brunnenvergifter", "Kindermörder" und globale "Strippenzieher" werden so neu zurechtgebogen. Und wenn israelische Wissenschaftler jetzt ankündigen, an einem Impfstoff gegen Covid-19 zu arbeiten, gilt das Verschwörungsgläubigen nur als weiterer Beleg für ihre Thesen, denn wer das Virus erfunden hat, hat natürlich auch das Gegenmittel. Und wer das anzweifelt, gilt als Teil der Verschwörung.
Müssen Gesetze nachgebessert werden?
Rechtlich bewegt sich das alles in einer Grauzone: Es ist nicht verboten, sich einen gelben Stern an die Brust zu heften oder krude Theorien zu verbreiten. "Unser Recht ist noch auf den klassischen rechten Antisemitismus eingestellt", so Michael Blume. Aber dieser habe sich weiterentwickelt: "Der Holocaust wird nicht mehr geleugnet, was strafbar ist, sondern man behauptet jetzt, die Juden waren es selber." Verboten ist das nicht, aber ist es gefährlich? Oder die Meinung Einzelner, die ihre wirren Thesen im Netz austauschen?
Blumes Schätzungen zufolge könnten 10-15 Prozent der Bevölkerung für solche Gedanken empfänglich sein und wenn auch nur ein Bruchteil derer Worten Taten folgen lasse, werde es tatsächlich gefährlich, sagt er. "Im Gegensatz zum Mittelalter braucht es heute keinen Mob mehr, es reicht, wenn sich Einzelne radikalisieren." In Halle an der Saale hat ein Mann im vergangenen Herbst bei einem Anschlag auf eine Synagoge zwei Menschen getötet. Er war der Überzeugung, die Juden steckten hinter der US-Notenbank und hätten die Flüchtlingskrise angezettelt.