Den meisten Applaus bekommt an diesem Abend Herbert Reul. Das Auditorium – etwa 200 Interessenten sind der Einladung des Ökumeneausschusses und des Landrats im Rheinisch-Bergischen Kreis zum traditionellen Altenberger Forum gefolgt – zollt dem NRW-Innenminister Respekt für seine klaren Worte, aber zweifelsohne auch für sein beherztes Eintreten gegen demokratiefeindliches Denken.
Denn der CDU-Politiker ist dafür bekannt, dass er weniger die mediale Aufmerksamkeit in Talk-Shows sucht, als vielmehr immer da zur Stelle ist, wo die innere Sicherheit des Staates bedroht und eine Haltung gefragt ist, die nicht primär nach Mehrheitsfähigkeit schielt und den Mainstream bedient, sondern auch schon mal unbequem ist.
Zur Not schwimmt der 72-Jährige nämlich gegen den Strom, bleibt sich und seinen Überzeugungen, aus denen er nie einen Hehl macht, damit aber treu. Dieses authentische Auftreten verschafft ihm nicht nur in den eigenen Reihen Reputation. Ganz nebenbei macht ihn das auch zu einem gefragten Gesprächspartner wie jetzt zuletzt bei der Ökumene-Veranstaltung im Martin-Luther-Haus.
Fakten oder gefühlte Wahrheiten?
"Fundament erschüttert? Extremismus in unserer Gesellschaft" lautete das Thema, zu dem der Leichlinger gemeinsam mit Prälat Dr. Karl Jüsten, Leiter des Katholischen Büros Berlin und dort "Verbindungsmann" zwischen Politik und Kirche, wie WDR-Moderator Wolfgang Meyer den Kölner Diözesanpriester vorstellte, Dr. Sabrina Krauss, Professorin für Psychologie an der SRH-Hochschule NRW, und Professor Dr. Marc Ziegele, Kommunikations- und Medienwissenschaftler an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, auf einem Podium saß.
Es ging um Ursachenforschung, Analysen und Erklärungsversuche, aber vor allem auch – angesichts der multiplen politischen Krisen und gesellschaftlichen Herausforderungen mit zwei Kriegen in nicht weiter Ferne – um Lösungsansätze, den bedrohlichen Rechtsruck zu stoppen.
Als Ausgangslage skizzierte Meyer die allgemeine Beobachtung, dass die sogenannten "Ismen" größer würden und damit auch die radikalen Ränder, was demokratisches Denken belaste. Fakten oder gefühlte Wahrheiten? Dazu wollte der Journalist die Einschätzung seiner Gästen wissen.
"70 Prozent können mit dem Staat nichts mehr anfangen." Diese These stellte Innenminister Reul in den Raum, um gleich hinterherzuschieben: "Das beunruhigt mich." Die Wahlergebnisse in den neuen Bundesländern sprächen für sich. "Die Leute sind von der Politik enttäuscht. Wir müssen liefern, Probleme angstfrei benennen, Wahrheiten aussprechen, differenziert argumentieren und dürfen nur versprechen, was wir auch halten können", übte er Selbstkritik. Manchmal würden schon kleine Schritte helfen. "Das ist meine Priorität. Dicke Sprüche ersetzen keine Taten."
Gefühlte Realitäten seien nun mal handlungsleitender, analysierte Psychologin Krauss das Phänomen eines sich ausdehnenden Extremismus. Die Gesellschaft sei angesichts der komplexen Gemengelage zurzeit "frustgeschüttelt", da hätten es einfache Lösungen wie die der Populisten leicht.
In den Kreisen Gleichgesinnter erlebe der Einzelne Selbstwirksamkeit, dass er etwas ausrichten könne, und erfahre dadurch Bestätigung. "Denn wir neigen nun mal dazu", so ihre Erklärung, "uns Gruppen anzuschließen, die so denken wie wir. Gemeinsame Feindbilder schweißen unheimlich zusammen."
Auch Langeweile – der Rückzug auf sich selbst wie in Coronazeiten – erhöhe die Bereitschaft, sich zu radikalisieren. "Wir verlieren die Jugendlichen an die, die schneller sind", sprach sie konkret den Einfluss sozialer Medien an. Influencer – allen voran TikTok-Imame – hätten mit ihren Anreizsystemen heute leichtes Spiel. "Populistische Sätze ziehen schnell und sich solchen Messages anzuschließen ist leichter als sich auseinanderzusetzen."
Die sozialen Medien würden Radikalisierungsprozesse eher noch beschleunigen, weil Menschen mehr und mehr in "selbstgewählten Blasen" lebten, bestätigte auch Medienwissenschaftler Ziegele. Den höchsten Nachrichtenwert im Mediendiskurs hätten nun mal Kontroversen und Skandale.
Hinzu komme, dass AfD-Wähler sich oft mit ihren Themen in der Gesellschaft nicht repräsentiert fühlten und diese mangelnde Aufmerksamkeit dann über die digitalen Netzwerke erreichten. "Die AfD hat bei TikTok so viele Follower wie alle anderen Parteien zusammen", berichtete er. Diese Partei habe die Logik der sozialen Medien für sich genutzt, so dass User sie als authentisch erleben würden, weil sie nicht lange drumherum rede, sondern eine Strategie der Nahbarkeit verfolge.
Einen Masterplan, wie gegen Unwahrheiten, radikales Gedankengut, den kursierenden Negativismus oder im Netz geteilte Verschwörungstheorien vorzugehen sei, gebe es nicht, so sein Fazit, allenfalls könne konstruktiver Journalismus – das Stichwort brachte Moderator Meyer in die Debatte ein – eine Alternative anbieten. "Konstruktivität aber braucht Zeit und Raum, was bei der Nutzung sozialer Medien nicht vorgesehen ist."
Mit Menschenbild des Grundgesetzes nicht vereinbar
Prälat Jüsten verteidigte auf Nachfrage des Moderators die von den deutschen Bischöfen verabschiedete Position, dass die AfD für Christen nicht wählbar sei und sie sich damit eindeutig von Rechtsextremismus abgrenzen wollten. Er beobachte in Berlin, so der Theologe, dass es immer schwieriger werde, mit AfD-Politikern zu sprechen.
Ihre teils verfassungsfeindlichen Aussagen seien "sehr erschreckend", "zumal wir uns auf ein christliches bzw. humanistischen Menschenbild verständigt haben und das die Grundlage unseres Zusammenlebens bildet". Ausländern, Migranten oder Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung ihre Würde abzusprechen sei mit dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht vereinbar und gehe "an die Fundamente unseres Glaubens und unserer Demokratie", betonte Jüsten unmissverständlich.
Trotzdem müsse man versuchen, im Dialog zu bleiben, gerade auch in diese Gruppen gehen, um selbst die zu erreichen, die außen vor seien und Kritik an der politischen Klasse übten.
Jüsten musste aber auch einräumen, dass die Bedeutung von Kirche stark nachgelassen habe und da, wo in den Gemeinden keine gute Jugendarbeit stattfinde, wichtige Netzwerke ausfielen. "Das führt dazu, dass Jugendliche immer mehr in ihrer eigenen Welt unterwegs sind und – wie aktuelle Studien zeigen – auch vereinsamen. Als Kirche erzielen wir diese Bindungswirkung nicht mehr."
Via TikTok, auch das formulierte der Kirchenmann in Abgrenzung zur AfD, sieht er jedenfalls keinen geeigneten Weg, für die eigene Botschaft zu werben. "Da muss man bereit sein, einen anderen Ton zu finden." Viel wirkungsvoller sei für die Kirche doch, wenn ihre Vertreter authentisch für das Evangelium einträten und sie als ehrlich und sinngebend wahrgenommen würden. "Wir brauchen Pfarrer, die Anziehungskraft haben."
Dass Einflussnahme über Plattformen wie TikTok nicht das Mittel der Wahl ist, klang auch bei Sitznachbar Reul an. "Da werden Aussagen aus dem Kontext gerissen, Meinungen zugespitzt und in Sekundenschnelle Likes erzielt, so dass Menge die Qualität ersetzt", kritisierte er. Und man muss rund um die Uhr dabei sein. Ein System, das nach schrägen Algorythmen abläuft. Ist doch irre. Da will ich nicht mitmachen."
Dennoch: Klagen helfe nicht. Stattdessen argumentierte der Politiker ganz pragmatisch: "Wir brauchen Vorbilder, und wir müssen Angebote machen" – gerade angesichts schwindender Stabilitäten und Verlässlichkeiten sowie eines fehlenden Vertrauens in Institutionen wie die Kirche oder in die Politik allgemein. "Wir haben überall – im Sport, in der Gewerkschaft, auch in der Kirche – so viele tolle Typen. Jedes Vorbild, das auf dem Boden des Grundgesetzes steht, ist gut. Und kein Medium ersetzt ein gutes Vorbild."
Immer mehr mischen sich ein
Immer mehr Menschen gingen inzwischen auf die Straße, würden sich einmischen und für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufstehen. "Ich bin totaler Optimist. Wenn wir da dranbleiben, kriegen wir das hin. Wir sind immer noch die Mehrheit, die so denkt", äußerte sich Reul zuversichtlich. Außerdem sei er ein Fan von politischer Bildung. Und Vertrauen gewinne man nur zurück, wenn man sich kümmere.
Zumal, so Psychologie-Expertin Krauss zustimmend, Menschen Sinn und Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit und Identität suchten, dazu aber Beziehungsaufbau nötig sei. "Wir haben ganz viele kleine Schräubchen, an denen wir drehen können und jeder Einzelne gefragt ist", machte sie Mut, den Trend eines erstarkenden Extremismus auch mit Engagement im Kleinen aufhalten zu können.
Abschließend trug die Runde noch einen ganzen Strauß an Ideen zusammen, wie das gefährdete Fundament der Demokratie – allen derzeitigen Tendenzen zum Trotz – doch noch zu retten ist: nämlich mit aufmerksamem Zuhören, grundsätzlicher Gesprächsbereitschaft, der Verständigung auf gemeinsame Ziele, einer geübten Streitkultur, "ohne sich zu hassen", dem toleranten Blick über die eigenen Grenzen hinaus, Offenheit gegenüber neuen Perspektiven, mit Präventionsprojekten, Aufklärung in den Schulen und dem Vorleben eigener Überzeugungen.