DOMRADIO.DE: In den Leitlinien steht zum Beispiel drin, dass jeder Mensch in den Gemeinden willkommen ist, dass ein verantwortlicher Umgang mit Beziehungen begrüßt wird, unabhängig von der sexuellen Ausrichtung. In unserer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sollte das eigentlich selbstverständlich sein, oder?
Miki Herrlein (Mitglied der Steuerungsgruppe von #Outinchurch und Bildungsreferent*in im Referat Ehe, Familie, Diversität im erzbischöflichen Seelsorgeamt in Freiburg): Ja, obwohl es auch in der Gesellschaft nicht durchgängig selbstverständlich ist. Gerade in der Kirche ist es noch nicht selbstverständlich. Es ist ein Learning, das eigentlich erst vor Kurzem eingesetzt hat. Das merkt man auch dem Text an.
DOMRADIO.DE: Sie engagieren sich in der Kirche als non-binäre Person. Die Leitlinien sprechen zwar von Vielfalt, explizit wird der Begriff non-binär nicht erwähnt. Fühlen Sie sich da mitgedacht und angesprochen oder hätten Sie sich mehr gewünscht?
Herrlein: Ich hätte mir auf jeden Fall mehr gewünscht, würde aber erst einmal grundsätzlich mit positiven Dingen anfangen wollen, weil ich mich tatsächlich erstmal gefreut habe, dass es diese Leitlinien überhaupt gibt und dass die Bedeutung von sexualpädagogischer Kompetenz in kirchlichem Handeln erstmal wahrgenommen wird.
Es wird ja gesagt, dass die Leitlinien für alle kirchlichen Handlungsfelder gelten und auch weiterzuentwickeln sind. Das klingt auch schön. Das klingt nicht nach ewiger Wahrheit, wie wir es vielleicht aus anderen kirchlichen Texten kennen.
Es wird gesagt, dass Rückmeldungen ins Gespräch eingebracht werden. Ich finde, dass Verlautbarungen, die wir vielleicht aus Rom zur Sexualmoral kennen, nicht so einladend klingen. Das ist auf jeden Fall ein Fortschritt.
Grundsätzlich wird Sexualität hier dynamisch, vielfältig, auch fluide und als einen lebenslangen Wachstumsprozess verstanden, der überhaupt keine Abgeschlossenheit beansprucht. Das ist neu. Das erkenne ich auch erstmal positiv an.
DOMRADIO.DE: Was fehlt Ihnen denn in diesen Leitlinien? Wo würden Sie sich einen Schritt weiter von der Kirche wünschen?
Herrlein: Es gibt bestimmte Kernaussagen, bei denen ich meine Fragen habe. Gleich zu Beginn heißt es zum Beispiel: "Als von Gott geschenkte positive Lebenskraft begleitet die Sexualität über die ganze Lebensspanne und prägt die geschlechtliche Identität jedes Menschen."
Wie Sie Ihr eigenes Geschlecht empfinden, hat in aller Regel aber nichts mit dem sexuellen Begehren zu tun. Diese Vermischung spricht sich leider nur zu oft rum. Sagbar ist vielleicht, dass Sexualität die sexuelle Identität prägt, aber eben nicht zwangsläufig die geschlechtliche und schon gar nicht die aller Menschen.
DOMRADIO.DE: Das heißt, das ist das Problem, was wir im Deutschen immer haben, was im Englischen als "sex" und "gender" unterschieden wird?
Herrlein: Das zum Einen. Das Problem ist aber auch, das das grundsätzlich zu universalistisch klingt, was typisch für kirchliche Texte ist. Genau das widerspricht dann leider den Prämissen von Individualität, Selbstbestimmung und Diversität, was ja gefordert wird.
DOMRADIO.DE: Denken Sie denn, dass solch ein Dokument wirklich Einfluss auf das Leben in der Gemeinde hat?
Herrlein: Es braucht tatsächlich mehr. Es wird In dem Text auch gesagt, dass es Schulungen braucht. Es ist vor allem eine Selbstreflexion von Mitarbeitenden, aber auch von Ehrenamtlichen. Die Perspektive fehlt ein bisschen. Aber das ist natürlich wichtig.
Ich kann das nicht irgendwie über eine Powerpoint-Präsentation oder ein E-Learning lernen. Ich brauche dann den Reflexionsraum und das ist auch nicht abgeschlossen. Das macht man nicht in einem Kurs, sondern das braucht eine ständige Präsenz dieser Themen.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie fordern jetzt auch als non-binäre Person von den Kirchen, vom Bistum Limburg, aber auch von anderen Bistümern, dass dieser Schritt weitergegangen wird?
Herrlein: Ich erwarte erstmal auf der Ebene von Texten, dass sie noch deutlicher Vielfalt atmen, also mit jeder Zeile und jeder Silbe Menschenliebe zum Ausdruck bringen, wo von Menschen die Rede ist. Das genau hat mit Sprachfähigkeit zu tun und vor allem auch mit Wertschätzung von queeren Menschen.
Interessanterweise gelingt es schon bei der Fassung der leichten Sprache. Das würde ich allen Adressat*innen empfehlen, diese zuerst zu lesen, denn da taucht zum Beispiel plötzlich das Wort nicht-binär auf.
Ansonsten sucht man vergeblich nach wichtigen Begriffen. Etwa der Begriff "trans" in der Geschlechtlichkeit taucht überhaupt nicht auf. Polyamorität, auch sexuelle Nichtidentitäten, also zum Beispiel Asexualität, sind komplett unsichtbar. Übrigens auch Gendersternchen vermisse ich.
Es wird rein binär gegendert. Das ist wirklich schade, weil Sichtbarkeit für queere und generell auch für diskriminierte Menschen ein sehr, sehr wichtiges Gut ist. Da gibt es, glaube ich, einfach noch viel zu tun. Aber es ist ein erster Schritt.
Das Interview führte Michelle Olion.