DOMRADIO.DE: Gottesdienste können wieder unter Hygienemaßnahmen gefeiert werden. Haben wir jetzt wieder die Pflicht, die Sonntagsmesse zu besuchen?
Dr. Georg Bier (Professor für Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): So sieht es aus. Die Sonntagspflicht besteht ja schon lange. Sie war zu Beginn der Corona-Zeit ausgesetzt und jetzt gilt sie wieder.
DOMRADIO.DE: Bischof Ipolt aus dem Bistum Görlitz hat gesagt, dass gerade ängstliche und vielleicht besorgte Gemeindemitglieder bewusst zur Teilnahme am Gottesdienst eingeladen sind. Ist das nicht verantwortungslos, während der Coronavirus-Pandemie den Gläubigen die Pflicht wieder aufzuerlegen?
Bier: Das kann ich nicht entscheiden. Bischof Ipolt wird wissen, wie die Situation in Görlitz aussieht. Grundsätzlich war die Sonntagspflicht deswegen aufgehoben worden, um insbesondere ängstliche Personen nicht in ein Dilemma zu bringen zwischen Pflichterfüllung auf der einen Seite und den möglichen Gesundheitsrisiken auf der anderen Seite. Es sollte sich niemand verpflichtet fühlen, ein Risiko einzugehen.
Deswegen hatten einige Bischöfe gesagt, dass die Pflicht für einen Moment ausgesetzt ist, sodass die Menschen, die nicht in die Kirche gehen wollten, weil es ihnen zu unsicher war, automatisch entschuldigt waren. Jetzt wird die Situation offenbar wieder anders beurteilt. Es heißt, dass Gottesdienstbesuche unter Hygienevorschriften möglich sind. Deshalb muss die Sorge vor Infektion nicht mehr so im Vordergrund stehen.
DOMRADIO.DE: Aber an der Pandemie hat sich doch im Grunde nichts geändert. Was veranlasst die katholische Kirche, die Sonntagspflicht wieder aufzunehmen?
Bier: Das weiß ich nicht so genau. Aber wir sehen ja in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, dass es ein gewisses Bestreben zurück zur Normalität gibt - bis hin zur Fußball-Bundesliga, die gerne wieder vor ausverkauften Häusern spielen möchte. Auch die Kirche will wieder schrittweise zur Normalität zurück. Jedenfalls kommt es für mich in solchen Maßnahmen zum Ausdruck. Der Unterschied zum Fußball ist, dass es dort eine große Nachfrage gibt, die beschränkt werden muss. Bei der Kirche ist es so, dass sie auch in Nicht-Corona-Zeiten nicht besonders voll ist. Vielleicht geht es jetzt darum, Leute wieder zu animieren, in die Kirche zu gehen.
DOMRADIO.DE: Laut Kirchenrecht heißt es: Wer aus triftigen Gründen nicht zur Messe gehen kann, soll beten, Schrift lesen oder zum Beispiel einen TV- oder Radio-Gottesdienst mitfeiern. Welche triftigen Gründe gibt es, die Messe schwänzen zu dürfen?
Bier: Ein triftiger Grund ist, wenn es in erreichbarer Nähe keine Feier gibt. Was "erreichbare Nähe" bedeutet, muss man auch von den Umständen abhängig machen. Wenn es keine Eucharistiefeier gibt, kann ich auch nicht teilnehmen. Bei Krankheit bin ich selbstverständlich entschuldigt, auch wenn ich arbeiten muss, während ein Gottesdienst stattfindet. Kinderbetreuung oder Betreuung von alten Menschen sind ebenfalls triftige Gründe.
DOMRADIO.DE: Bringen wir das auf den Punkt: Kirchenrechtlich ist der Sonntagspflicht genüge getan, wenn ich mir einen Gottesdienst im Radio anhöre, weil ich Angst vor einer Infektion während des Gottesdiensts habe und deshalb nicht daran teilnehme?
Bier: Nein. Die Sonntagspflicht erfüllen Sie nur, wenn Sie an einer Eucharistiefeier am Sonntag teilnehmen. Aber es gibt eben Gründe, wie ich sie genannt habe, die Sie entschuldigen, sodass Sie entschuldigt der Sonntagspflicht nicht nachkommen. Es gibt auch die Möglichkeit von Dispens. Dann ist im Einzelfall eine Entschuldigung gegeben.
Aber die Sonntagspflicht kann nicht durch einen Radio-Gottesdienst ersetzt werden. Es ist eine sinnvolle Form, um den Sonntag trotzdem zu heiligen. Der Gesetzgeber schlägt auch Wort-Gottesdienste vor. Das sind aber Ersatzformen, durch die die Sonntagspflicht nicht erfüllt wird. Aber wenn diese entschuldigt nicht erfüllt wird, sind es sinnvolle Alternativen, um trotzdem in irgendeiner Form den Sonntag zu heiligen.
Das Interview führte Tobias Fricke.