DOMRADIO.DE: Frau Richter, an diesem Wochenende singen Sie gleich zweimal die ersten drei Kantaten aus dem Weihnachtsoratorium von Bach als Benefizkonzerte, zunächst am Samstag in der Kölner Kirche St. Ursula und dann am Sonntag in Herz Jesu, Euskirchen. Welche Motivation steckt dahinter?
Anna Lucia Richter (Mezzosopranistin und Kulturbotschafterin von Casa Hogar Deutschland e. V.): Ich trete für "Casa Hogar" auf, ein Projekt, das mir sehr am Herzen liegt, weil es die Bildung von Mädchen und Frauen in Kolumbien fördert. Kennengelernt habe ich "Casa Hogar", als ich vor etwa zweieinhalb Jahren Theo Rüber, den Gründer dieses Projektes, traf, der gerade ein Benefizkonzert organisierte und darüber Aufmerksamkeit für seine Initiative schaffen wollte. Er hat mir dann von seiner Arbeit erzählt, und ich war sofort begeistert, aber auch beeindruckt, was Casa Hogar leistet. Gleichzeitig machten mich die geschilderten Zustände in dieser von äußerster Armut geprägten Region im Nordwesten Kolumbiens, wo das Projekt angesiedelt ist, sehr betroffen. Denn diese Gegend ist von einem brutalen Krieg zwischen illegalen Gruppen gezeichnet, die um den gefährlichen Drogenanbau und den unerlaubten Goldabbau, der zu quecksilber-verseuchten Flüssen führt, konkurrieren.
Als Musikerin kann ich natürlich nicht unmittelbar etwas zur Verbesserung der Situation vor Ort beitragen, dennoch aber durch Benefizprojekte sehr wohl etwas für die Menschen dort bewegen. Und deshalb möchte ich jetzt einmal im Jahr etwas Eigenes organisieren. Durch meine inzwischen weltweiten Verbindungen habe ich schon vielen Kollegen von diesem Projekt erzählt und bin bislang überall auf Unterstützung gestoßen. Von daher hätten wir dieses Orchester, mit dem wir jetzt das Weihnachtsoratorium aufführen, dreimal so groß besetzen können. So viele Leute haben ihre kostenlose Teilnahme zugesagt.
DOMRADIO.DE: Trotzdem war ja vermutlich eine systematische Werbung erforderlich, bis man ein solches Ensemble zusammen hat und alle Instrumente besetzt sind…
Richter: Der Vorteil ist, dass wir Musiker das Weihnachtsoratorium alle gerne spielen und die Zuhörer gerade in der Adventszeit für eine solche Musik, die besinnliche Momente schafft, aber auch die Unterstützung eines Benefiz-Gedankens sehr empfänglich sind. Zusammen mit meinem Vater, der ja Geiger im Gürzenich-Orchester ist, habe ich bei den großen Orchestern der Umgebung und auch ehemaligen Gesangskolleginnen und -kollegen an der Hochschule nachgefragt, wer den Lust hat, mitzumachen.
Und so sind wir nun tatsächlich 60 Sänger und Instrumentalisten, die alle ohne Gage auftreten. Der gesamte Reinerlös der Spenden, die wir an den Abenden sammeln, wird nach Kolumbien gehen zur Unterstützung von Mädchen und Frauen im Chocó. Sogar die Kinder der Musiker machen mit; sie singen die Choräle der ersten Kantate. Man kann also sagen: Deutsche Kinder setzen sich für Kinder in Kolumbien ein.
DOMRADIO.DE: Waren Sie selbst denn schon einmal dort?
Richter: Leider kenne ich die Region Chocó in Kolumbien bislang nur vom Hörensagen, bin aber über die Teilnahme an den Vorstandssitzungen des Vereins gut informiert. Im Übrigen war Theo Rüber gerade erst wieder dort und hat ausführlich von seiner Reise berichtet.
Durch meinen Beruf bin ich selbst ständig unterwegs, da lässt sich nicht mal eben eine so körperlich anstrengende Flugreise zwischen zwei Konzerte packen, die mit Impfungen etc. im Übrigen ja auch gut vorbereitet sein will und für die man im Terminplan dann einige Wochen blockieren muss. Fürs nächste Jahr aber ist das in Planung. Da möchte ich mir dann vor Ort selbst alles einmal anschauen.
DOMRADIO.DE: Wie wird man denn eigentlich Kulturbotschafterin? So, wie Sie es schildern, hat das Projekt ja mehr Sie gefunden als umgekehrt…
Richter: Als ich über Theo Rüber mit Casa Hogar in Kontakt kam, haben wir ziemlich schnell überlegt, wie ich mich am sinnvollsten zur Unterstützung des Vereins einsetzen kann. Meinen Fähigkeiten entspricht es ja eher, die Kultur in den Vordergrund zu rücken.
Was genau man als Kulturbotschafterin zu tun hat, habe ich dann von einer Musikerkollegin, Magdalena Hoffmann, die Solo-Harfenistin beim Bayrischen Sinfonieorchester in München ist und sich ebenfalls als Kulturbotschafterin bei Casa Hogar engagiert, erfahren.
DOMRADIO.DE: Gibt es denn eine klar definierte Aufgabe für Sie?
Richter: Das Wichtigste ist sicher, dass ich innerhalb meiner Szene Aufmerksamkeit für diesen Verein schaffe, über ihn spreche, ihn in meinem Lebenslauf nenne. Darüber hinaus betrachte ich es als mein Kernanliegen, einmal im Jahr ein Projekt selbstständig zu organisieren und so Spenden zu sammeln. Außerdem würde ich dauerhaft gerne mehr die Kulturen miteinander verbinden.
Bei einem ersten Casa Hogar-Konzert im letzten Jahr in der Kölner Philharmonie gemeinsam mit dem Mädchenchor am Kölner Dom, in dem ich selbst ab dem neunten Lebensjahr gesungen habe und musikalisch groß geworden bin, wurden zum Beispiel original kolumbianische Lieder gesungen. Eigentlich ist das ja immer spannend – auch unabhängig von Casa Hogar – offen für Einflüsse von außen zu sein, in einen interkulturellen Austausch miteinander zu kommen, mehr voneinander zu erfahren, um jeweils vom anderen auch zu lernen. Nur so kann ja letztlich Entwicklung geschehen.
DOMRADIO.DE: Mit diesem Kontakt zur Dommusik bzw. Ihrem Auftritt mit dem Mädchenchor hat sich ja vermutlich wieder ein Kreis geschlossen…
Richter: Dieser Chor war meine absolute Basisschule, in der ich alles Grundlegende gelernt habe. Fast jede Woche im Kölner Dom zu singen, Konzertreisen zu machen, so viel Musikliteratur in der Gemeinschaft mit den vielen anderen Mädchen kennenzulernen – das war eine ganz, ganz tolle Zeit.
Eine Botschaft zu haben und diese auch weiterzutragen – damit bin ich aufgewachsen. Und ich glaube, dass sich Musik dafür eben auch am allerbesten eignet, weil sie so tief ins Herz gelangen kann. Hier geht es nicht um etwas rein Intellektuelles, sondern um eine Kombination aus Emotionen und rationaler Botschaft, die dann über die Musik einfach gut hängen bleibt. Gerade das Weihnachtsoratorium bietet sich dafür in besonderer Weise an, was wiederum dem Benefizgedanken unseres Projektes hilft.
DOMRADIO.DE: Herr Dr. Rüber, wie kam es denn überhaupt zur Gründung von Casa Hogar?
Dr. Theodor Rüber (Neurologe und Neurowissenschaftler an der Uniklinik Bonn): Casa bedeutet übersetzt "Haus" und Hogar "Herd". Gemeint ist im Lateinamerikanischen der Ort, wo es warm und sicher ist, wo man sich zuhause fühlt. Und einen solchen Ort wollen wir den jungen Mädchen und Frauen, mit denen wir in Kolumbien zusammenarbeiten, bieten.
Unser Hauptaugenmerk liegt auf Schülerinnen und Studentinnen aus entlegenen Gebieten, die in unseren Wohnheimen ein sicheres Zuhause finden, während sie auf ihren Schul- bzw. Studienabschluss hinarbeiten. Alle Einrichtungen, die wir unterstützen, ergänzen sich untereinander, denn die Schülerinnen sollen die Möglichkeit erhalten, nach dem Abitur zu studieren und in das Studentinnenwohnheim zu wechseln. Gerade entsteht zum Beispiel ein neues Begegnungszentrum, wo die Mädchen alles zum Leben Notwendige bekommen. Das ist wie eine Art Internat.
Denn im Chocó, einem der 32 Departementos – das sind politische Verwaltungsgebiete in Kolumbien – leiden besonders Mädchen und Frauen unter den patriarchalisch und machistisch geprägten Strukturen und haben praktisch keine Chance auf eine selbstbestimmte Zukunft. Im Chocó werden viele Mädchen bereits sehr früh selbst Mutter. Damit werden sie auf eine Rolle festgelegt, die ihnen den Zugang zu Einkommensmöglichkeiten, Bildung, Ausbildung und Selbstbestimmung, verwehrt. Die Chancen, diesem Teufelskreis der Armut zu entkommen, sind gering.
Frauen werden hier weithin unmündig gehalten. Sie sind in allen entscheidenden Fragen von ihren Ehemännern oder Vätern abhängig und werden für die gleiche Arbeit geringer entlohnt. Dabei bleibt es häufig gerade den Frauen überlassen, ganze Großfamilien zu versorgen, wenn sich die Väter, was durchaus gängige Praxis ist, abgesetzt haben oder sie, und auch dies geschieht mit erschütternder Häufigkeit, ermordet oder verschleppt werden.
DOMRADIO.DE: Sie brauchen für Ihr Engagement aber sicher ja verlässliche Partner vor Ort…
Rüber: Hilfsorganisationen sind nach wie vor kaum im Chocó vertreten. Die katholische Kirche ist eines der wenigen funktionierenden Systeme dort und wird aufgrund ihrer Neutralität von allen Parteien anerkannt. Sie versucht seit Jahren, den Menschen dort ungeachtet ihrer Abstammung und ihrer Religionszugehörigkeit zu helfen.
DOMRADIO.DE: Wie kamen Sie überhaupt nach Kolumbien und wie hat sich die Idee, konkret etwas gegen diese Not zu unternehmen, entwickelt?
Rüber: Angefangen hat es eigentlich mit meiner Doktorarbeit in Boston, wo ich viele privilegierte Menschen kennengelernt habe. Aber zurück in Bonn wollte ich auch die andere Seite der Welt kennenlernen, auch wenn das aus heutiger Sicht naiv klingt. So bin ich nach Kolumbien gekommen und habe in Cali in einem öffentlichen Krankenhaus gearbeitet, wo viele Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen behandelt wurden. Pro Nacht 15 junge Leute mit Unfall-, Stich- oder Schussverletzungen in der Notaufnahme waren ganz normal, weil es dort viele rivalisierende Drogenbanden gibt.
Ein Teil sind Guerilla-Gruppen, die ursprünglich mal politisch motiviert waren, jetzt aber hauptsächlich kriminelle Ziele verfolgen. Das erste Mal war ich als Medizinstudent da und später dann nochmals für vier Monate im praktischen Jahr. Da ist dann auch die Idee entstanden, daraus ein Projekt zu machen, allerdings in einer ganz anderen Region: eben im Chocó.
Als erstes habe ich den dortigen Bischof Julio angeschrieben – auch weil ich wissen wollte, wie funktioniert die Kirche vor Ort. Ich bin ja selbst Katholik. Der hat mir zunächst wegen der allgemeinen Gefahrenlage abgeraten. Ich bin aber hartnäckig geblieben, konnte ihn schließlich überzeugen, und dann ging alles sehr schnell, so dass ich von jetzt bis gleich in Deutschland alles stehen und liegen gelassen habe und nach Chocó gereist bin.
In der Folge ist daraus schließlich Casa Hogar geworden und die Idee, ein Haus für Mädchen und Frauen zu bauen, die in dieser Gegend sehr schnell Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Oft aus bester Absicht werden sie von ihren Eltern aus entlegenen Regenwaldgebieten in die größeren Städte geschickt, landen dann aber auf dem Strich, weil sie in der Stadt gar nicht zurecht kommen und auch sehr jung sind. Ich selbst habe schon 14-Jährige gesehen, die bereits dreimal schwanger waren.
DOMRADIO.DE: Wo fängt man denn da angesichts der großen Not überhaupt an?
Rüber: Das Prinzip ist, dass Menschen, die eine Chance auf Bildung bekommen, mehr aus ihrem Leben und dem einer ganzen Gesellschaft, ihrer peer-group sozusagen, machen können. Das ist die Hoffnung. Das ist aber auch eine Wette auf die Zukunft, weil wir diesen Mädchen natürlich nicht vorschreiben können, was sie aus dieser Förderung machen, und es ist durchaus auch realistisch, dass sie diese Bildung nutzen, um woanders hinzugehen. Das entspricht zwar nicht unserer Vorstellung, aber die Mädchen haben ihre eigenen Pläne. Und das ist auch gut so.
Die Idee stammt vom Cusanuswerk. Als Alt-Cusaner wollte ich – das ist die Idee der Begabtenförderung des Cusanuswerks – einer sehr konkreten Gruppe helfen. Es geht um "Elitenförderung"; darum, Hilfe zu multiplizieren. Wenn die nächste Generation von Müttern mit Bildung gefördert wird, wirkt das in die gesamte Gesellschaft hinein. Man bricht alte Strukturen auf und verändert etwas. Denn das meiste hängt in Kolumbien an den Frauen, vor allem natürlich die Erziehungsarbeit.
Sie werden dann zu Multiplikatorinnen von Bildungsförderung. 2018 haben wir unseren Verein gegründet, seitdem sind wir eigenständig: durchaus kirchennah, weil wir mit der Kirche zusammenarbeiten – sie ist unser Hauptpartner und verfügt vor Ort über ein gut funktionierendes Netzwerk – aber konfessionell ungebunden. Bei uns kann jeder mitmachen.
Insgesamt haben wir bereits 38 Bildungsprojekte – Schulen, soziale Einrichtungen, Wohnheime und Frauenhäuser – initiiert oder gefördert und bezahlen acht festangestellte professionelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Trotzdem steht die Hauptarbeit von Casa Hogar auf ehrenamtlichen Schultern – mit inzwischen immerhin 120 Ehrenamtlern.
DOMRADIO.DE: Frau Richter, zurück zu den beiden Konzerten: Viele Menschen – Instrumentalisten und Chormitglieder – haben sich für dieses Weihnachtsoratorium am zweiten Advent zusammengetan – auch aus Ihrer eigenen Familie. Ihr Vater wird dirigieren. Ihre Mutter singt neben Ihnen im Chor. Was erhoffen Sie sich von den beiden Abenden in Köln und Euskirchen?
Richter: Dass wir über die Musik Aufmerksamkeit für Casa Hogar schaffen und möglichst viele Spendengelder zusammenbekommen, aber auch dass wir mit Menschen ins Gespräch kommen, die darüber hinaus noch mehr tun wollen. Und dann geht es natürlich auch um traumhaft schöne Musik. Also ehrlich, für mich gibt es kein Weihnachten ohne Weihnachtsoratorium, wie es kein Osterfest ohne eine Bach-Passion gibt. Richtig Weihnachten wird es erst, wenn ich den Eingangschor "Jauchzet, frohlocket…" höre – mit Pauken und Trompeten.
Die Pfarrer beider Kirchengemeinden, Dominik Meiering und Tobias Hopmann, sowie die jeweils lokalen Kirchenmusiker Matthias Bartsch und Manfred Sistig unterstützen uns sehr und waren sofort Feuer und Flamme für das Projekt, von dem jeder gespendete Euro direkt an die Mädchen und Frauen in Chocó geht. Alle, die mitmachen, freuen sich schon jetzt riesig auf dieses gemeinschaftliche Musizieren.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.