Die kleine Schweiz wirkt oft als Brennglas für soziale Reizthemen in Europa. Ihre Kulturen von direkter Demokratie, Eigenständigkeit und Wohlstandswahrung führen zu überraschenden Referenden mit überraschendem Ausgang: dem Minarettverbot etwa oder dem nur knapp gescheiterten Einwanderungsstopp.
Auch im kirchlichen Bereich prallen mitunter Meinungs- und Mentalitätsunterschiede auf engem Raum zusammen. Dabei nimmt Vitus Huonder eine besondere Rolle ein. Der 73-jährige Bischof von Chur fungiert als Lautsprecher des konservativen Kirchenflügels - während sich seine Amtsbrüder in der Schweizer Bischofskonferenz oft bemühen, dessen verbale Vorstöße zu Lebensschutz, Sexualität und Kirchenverfassung wieder einzufangen.
Knapp zwei Monate vor der Weltbischofssynode zum Thema Familie, bei der auch über den Umgang der Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen und Homosexuellen diskutiert werden soll, hat Huonder nun eine neue Debatte ausgelöst. Und die bringt nicht nur seine Mitbrüder in die Bredouille, sondern womöglich auch ihn selbst. Der Schweizer Dachverband der Schwulen, "Pink Cross", hat am Montag Strafanzeige gegen den Bischof eingereicht. Dessen jüngste Äußerungen stellten eine öffentliche Aufforderung zu Gewalt gegen Homosexuelle dar und seien somit strafbar.
"Keine Vielfalt der Ehemodelle"
Huonder hatte in einem Vortrag Bibelstellen aus dem Alten Testament zitiert, wonach Geschlechtsverkehr unter Männern mit dem Tod bestraft gehöre: "Ihr Blut soll auf sie kommen", trug er aus dem Buch Levitikus vor - und er ergänzte, diese Zitate allein "würden genügen, um der Frage der Homosexualität aus der Sicht des Glaubens die rechte Wende zu geben". Und sie hätten auch Bedeutung für die Definition von Ehe und Familie: "Da gibt es keine Vielfalt der Ehe- und Familienmodelle."
Die Reaktionen waren erwartbar - und am heftigsten wie immer unter Pseudonym in den sogenannten sozialen Netzwerken. Die einen befanden auf Volksverhetzung und Aufstachelung zum Hass oder zumindest auf einseitige Bibelauslegung. Die anderen ernannten Huonder zum Helden und Verteidiger des Glaubens.
Zwar bedauerte der Bischof kurz darauf öffentlich, wenn er "missverstanden" worden sei. Seine Aussagen nahm er aber nicht zurück - und verwies auf die Ausführungen zum Thema Homosexualität im Katechismus der Katholischen Kirche von 1992. Kritiker werten das als Huonders Konfliktstrategie: vorpreschen und dann die eigene Person unter Verweis auf die offizielle Lehre wieder aus dem Spiel nehmen.
Verhaltene Reaktionen der anderen Bischöfe
Eine weitere Kritik trifft dagegen seine Amtsbrüder in der Schweiz: Sie ließen sich die Agenda diktieren und liefen hinterher, statt selbst aktiv zu werden und ihre gemäßigteren Positionen besser zu profilieren. Die Bischofskonferenz äußerte sich nicht zu dem neuen Fall - und grundsätzlich "nicht zu Äußerungen einzelner Bischöfe".
Als Reaktion beschrieb freilich deren Vorsitzender, Bischof Markus Büchel, in einem Brief an die Seelsorger seines Bistums Sankt Gallen, wie er sich eine Bibelauslegung unter dem Vorzeichen der Nächstenliebe vorstellt. Zudem mahnte er einen verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Sexualität an. Als Distanzierung von Huonders Rückgriff auf die archaisch anmutenden religiösen Rechtsvorschriften zur Zeit des Moses ist das nur mit Wohlwollen zu werten.
Parallelen zu Frontstellungen zwischen "Bewahrern" und "Erneuerern" in anderen Ländern und auch in der Kurie sind unschwer zu erkennen. Allerdings wäre ein Holzweg zu glauben, die Synode im Oktober werde sich nur um westliche Reizthemen wie die Ehe zwischen Homosexuellen oder Wiederverheiratete drehen. In Afrika, Asien oder Südamerika haben wachsende und bevölkerungsreiche Ortskirchen ganz andere Probleme und vertreten bisweilen völlig andere Positionen.
Dort geht es um Armut, Vielehe, Aids-Waisen, indigene Familienkulturen, Drogenkriminalität, Flucht oder Arbeitsmigration als Gründe für das Scheitern von Familien. Und diese Ortskirchen sind - nicht zuletzt mit der "Stärkung der Ränder" durch Papst Franziskus - inzwischen selbstbewusst genug, sich die Agenda nicht mehr vom reichen Westen diktieren zu lassen.