Arche-Gründer fordert mehr Geld und Bildung für die Jugend

"Verbrechen an unseren Kindern"

Zu seinem 60. Geburtstag geht Bernd Siggelkow vom christlichen Kinderwerk "Die Arche" hart mit Politik und Gesellschaft ins Gericht. Die Kindergrundsicherung der Ampel nennt er "einen Witz" und verlangt zielgerichtetere Maßnahmen.

Bernd Siggelkow, der Gründer des Kinderhilfswerks "Arche", steht bei der Einweihung einer "Arche"-Einrichtung vor dem Gebäude an einem Logo. / © Bernd Weißbrod (dpa)
Bernd Siggelkow, der Gründer des Kinderhilfswerks "Arche", steht bei der Einweihung einer "Arche"-Einrichtung vor dem Gebäude an einem Logo. / © Bernd Weißbrod ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie wollen in Ihren Einrichtungen sowohl den körperlichen als auch den emotionalen Hunger sozial benachteiligter Kinder stillen. Lassen Sie uns zunächst auf den physischen Hunger schauen. Ist es zu glauben, dass Kinder im reichen Deutschland im Jahr 2024 nicht genug zu essen kriegen?

Pastor Bernd Siggelkow (Gründer der Arche): Wir haben das große Problem, dass viele Kinder ohne Frühstück in die Schulen gehen. Wir als Arche bekommen oft Anrufe von Schuldirektoren, die uns bitten, in ihrer Schule an 100 oder 200 Schüler und Schülerinnen Frühstück zu verteilen, damit die sich im Unterricht konzentrieren können. 

Das liegt auf der einen Seite daran, dass die Preise unglaublich in die Höhe geschnellt sind, gerade was Lebensmittel betrifft. Andererseits wird leider auch die Situation für Familien in Deutschland immer schwieriger. 

Symbolbild Kinder essen im Kindergarten / © Oksana Kuzmina (shutterstock)
Symbolbild Kinder essen im Kindergarten / © Oksana Kuzmina ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie kämpfen schon sehr lange gegen Kinderarmut. Hat dies auch damit zu tun, dass Sie als Kind selbst unterschiedliche Arten von Hunger, von Armut, erfahren haben? 

Siggelkow: Ja. Als ich klein war, hat meine Mutter die Familie verlassen und mein Vater wollte keine Kinder. Bei uns herrschte im Prinzip immer nur Existenzkampf, weil wir auch keine finanziellen Ressourcen hatten. Aber Einzug gehalten hat auch die emotionale Verarmung. Ich saß nie auf dem Schoß eines Erwachsenen und habe eigentlich nie Liebe bekommen.

Bernd Siggelkow

"Ihr fehlen Perspektive und Würde."

Das ist bei vielen Kindern ähnlich, die ich heute in der Arche treffe.  Sie sagen häufig, dass sie das fünfte Rad am Wagen sind und ihre Mutter sie lieber abgetrieben hätte. Da ist aber nicht die Mama böse, sondern irgendetwas ist in ihrer Biografie passiert, dass sie so geworden ist. Ihr fehlen Perspektive und Würde. 

Beides vermittelt man nicht über eine Erhöhung des Bürgergeldes, sondern über existenzsichernde Arbeitsplätze. Die aber gibt es leider für viele alleinerziehende Frauen kaum. Das wird immer mehr zum Problem. Wir haben zwar Fachkräftemangel, aber unsere Menschen bilden wir nicht entsprechend aus.

DOMRADIO.DE: Inwiefern hilft es bei Ihrer Arbeit, dass Sie die Erfahrungen vieler Kinder teilen? 

Siggelkow: Mich hat damals sozusagen gerettet, dass ein Pastor fragte, ob ich eigentlich weiß, dass es jemanden gibt, der mich liebt? Damals war ich 16 und er sprach von Gott. Ich hatte keine Ahnung von Gott. Aber ich wusste, dass es das ist, was mir fehlt: Liebe. 

Bernd Siggelkow

"Ihnen fehlen Menschen, die nachhaltig für sie da sind."

Ich merke, dass es auch unseren Kindern heute nicht an Programm fehlt, wie es in vielen Einrichtungen in Sportvereinen oder mit Musikangeboten dargereicht wird, sondern es fehlt an Liebe und Beziehung. Ihnen fehlen Menschen, die nachhaltig für sie da sind. 

Wenn ein neuer Mitarbeiter in die Arche kommt, stellen wir immer die gleiche Frage: "Wie lange bleibst du?" Kinder brauchen verlässliche Ansprechpartner und Menschen, die sie ernst nehmen. 

DOMRADIO.DE: Mittlerweile arbeiten Sie an 32 Standorten in ganz Deutschland, erreichen um die 7.000 Kinder. Was ist das Grundprinzip der "Arche"? 

Siggelkow: Das Grundprinzip ist erst einmal, dass wir versuchen, jedes Kind aus dem Blickwinkel Gottes zu sehen. Das ist mir für meine Mitarbeiter sehr wichtig. Nicht alle sind Christen. Aber ich stelle ganz vorne an, dass wir Toleranz leben, dass wir Nächstenliebe leben, dass wir niemanden verurteilen. 

Bernd Siggelkow

"Es sind eben die Schwierigen, mit denen muss man auch die zweite Meile gehen."

Viele Kinder, die in die Arche kommen, haben in allen anderen Einrichtungen Hausverbot. Es sind die Schwierigen, mit denen muss man auch die zweite Meile gehen. Wir sehen in jedem Kind sein Potenzial und versuchen dieses Potenzial zu fördern. 

Garderoben mit Jacken und Rucksäcken von Kindern am 23. November 2022 im Eingangsbereich einer Kindertagesstätte in Grafschaft. Zwei Kinder rennen über den Gang. / © Harald Oppitz (KNA)
Garderoben mit Jacken und Rucksäcken von Kindern am 23. November 2022 im Eingangsbereich einer Kindertagesstätte in Grafschaft. Zwei Kinder rennen über den Gang. / © Harald Oppitz ( KNA )

Wir wollen die Kinder unterstützen, sie stärken und ihnen sagen: "Glaube an dich, mach was aus deinem Leben. Es gibt jemanden, der an dich glaubt, der dir Dinge zuspricht. Du bist einzigartig und wertvoll." Das genießen die Kinder natürlich, weil sie so etwas in ihrem Alltag sehr selten hören. 

DOMRADIO.DE: Sie wollen niemanden missionieren. Was also macht das Christliche der "Arche" aus? 

Siggelkow: Wir leben unser Christsein. Das ist viel mehr, als nur darüber zu reden. Ich kann den Kindern sagen: "Du musst an Gott glauben!" Dann zeigen sie mir den Mittelfinger und fragen "Was muss ich?" 

Und im Grunde haben sie Recht. Dabei fehlt ihnen letztlich jemand, der an sie glaubt. Und genau das sagen wir ihnen. 

Natürlich fragen die Kinder uns auch manchmal "Warum reagierst du so?" oder "Du bist Christ? Was bedeutet das eigentlich?" Dann beantworten wir ihre Fragen. Aber wir geben auch viele Dinge vor. Wir leben christliche Werte. Wir reden über unseren Glauben, aber nicht in der Form, dass wir sagen "Du musst dich bekehren." oder "Du musst an Jesus glauben." 

Das passiert manchmal ganz von alleine, ohne dass wir darüber nachdenken. Kinder brauchen ein authentisches Gegenüber und sie brauchen Vorbilder. Wenn die Vorbilder wirklich echt sind, wollen sie das kapieren und vielleicht auch ein bisschen kopieren. 

DOMRADIO.DE: Sie haben Mitte der 1990er Jahre angefangen. Hat Armut heute ein anderes Gesicht als damals, als Sie die "Arche" gegründet haben? 

Bernd Siggelkow

"Ich finde, dass Armut in Deutschland schrecklicher geworden ist als vor 30 Jahren."

Siggelkow: Ich finde, dass Armut in Deutschland schrecklicher geworden ist als vor 30 Jahren. Als ich anfing, gab es offiziell keine Kinderarmut bei uns. Dann kam 2001 der erste Armuts- und Reichtumsbericht heraus, in dem gesagt wurde, dass in Deutschland 1,2 Millionen Kinder in finanzieller Armut leben. Damals dachte ich "Wow, endlich, jetzt wird etwas getan!" 

Mittlerweile haben wir laut dem Deutschen Kinderschutzbund über vier Millionen Kinder in finanzieller Armut. Der Staat hat versagt, die Politik hat versagt. Deswegen habe ich ein neues Buch geschrieben, um meine Wut darüber deutlich zu machen.  Ich glaube, die Zeit der weichgespülten Worte zum Thema Kinderarmut ist vorbei. 

Armut in Familien bedeutet Kinderarmut / © Ira Shpiller (shutterstock)
Armut in Familien bedeutet Kinderarmut / © Ira Shpiller ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: "Das Verbrechen an unseren Kindern" heißt Ihr neues Buch. Sie gehen darin hart mit der Politik ins Gericht. Ist es denn produktiv, Politikerinnen und Politiker als Verbrecher zu brandmarken? 

Siggelkow: Ich glaube, wir müssen endlich eine deutliche Sprache sprechen. Es kann nicht sein, dass wir unseren Kindern unterlassene Hilfeleistung zumuten, sie einfach übersehen, indem wir sagen "Sie haben keine Wählerstimmen". 

Das beste Beispiel ist die Kindergrundsicherung. Da überlegt eine Familienministerin, dass wir eigentlich zwölf Milliarden Euro dafür brauchen. 

Am Ende bleiben nach dem Kompromiss unterm Strich 2,5 Milliarden Euro. Auf die Menschen umgerechnet, die darauf Anspruch haben, bleiben 30 Euro pro Monat und pro Familie übrig. Das ist eigentlich ein Witz. 

Bernd Siggelkow

"Bei Pisa-Studien schneiden wir hier im Land der Dichter und Denker ganz hinten in Europa ab. Das darf doch nicht wahr sein."

So geht die Politik seit Jahren mit Kinderarmut um. Mittlerweile haben wir Verwahrlosung, die wir aufdecken. Wir haben Kinder, die nicht genug zu essen haben, die in die Schule gehen. Wir haben ein marodes Bildungssystem. 

Bei Pisa-Studien schneiden wir hier im Land der Dichter und Denker ganz hinten in Europa ab. Das darf doch nicht wahr sein. Da muss man Ross und Reiter benennen. Das ist meiner Meinung nach ein Verbrechen. 

DOMRADIO.DE: Die Kindergrundsicherung der Ampel ist in Ihren Augen also ein Witz. Im Buch schlagen Sie zum Beispiel vor, arbeitsunwilligen Menschen ohne Kinder das Bürgergeld zu streichen und das eingesparte Geld in Alleinerziehende zu investieren. Warum finden Sie das gerechter? 

Siggelkow: Es ist doch ungerecht, wenn jemand, der 20, 30 Arbeitsstellen abgelehnt hat, die gleiche Erhöhung bekommt, wie eine alleinerziehende Mutter, die ständig bemüht ist, einen Arbeitsplatz zu finden, ihn aber nicht bekommt, weil sie Kinder hat.

Auf der einen Seite muss sich Arbeit lohnen. Es muss schon einen Unterschied zwischen Bürgergeldbeziehern und Arbeitnehmern geben. Auf der anderen Seite kann es nicht sein, dass wir Menschen durchs System schleifen, die keine Lust haben. Das sind nicht viele, aber die wenigen sieht die Bevölkerung als Schmarotzer an. Am Ende werden alle in einen Topf geworfen und das ist nicht in Ordnung. 

Bernd Siggelkow

"Wir brauchen Arbeit, die sich lohnt."

Wir brauchen Arbeit, die sich lohnt. Wir sollten Arbeit subventionieren und nicht Kinder alimentieren. Das finde ich einen großen Unterschied. Dann werden Eltern auch zu Vorbildern für ihre Kinder, wenn sie eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen, wenn sie arbeiten gehen können. Vor diesem Hintergrund kann man die Wirtschaft unterstützen, wenn es kleine Betriebe sind.

Alle zusammen sollten sich Gedanken darüber machen, wie die Altersarmut alleinerziehender Frauen zu verhindern ist, die wir in 20 bis 30 Jahren nicht mehr bezahlen können. 

Altersarmut könnte in den nächsten Jahren in Deutschland sogar noch zunehmen / © Maliutina Anna (shutterstock)
Altersarmut könnte in den nächsten Jahren in Deutschland sogar noch zunehmen / © Maliutina Anna ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: In der Diskussion um den Fachkräftemangel fordern Sie, stärker in die Bildung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Haushalten zu investieren. Aktuell verlassen 50.000 Kinder die Schule ohne Abschluss. Wie genau könnte das denn aussehen? 

Siggelkow: Indem man dafür sorgt, dass die Kindergrundsicherung auch wirklich beim Kind ankommt und dass damit in den Familien keine Löcher gestopft werden. Ich spreche ausdrücklich nicht davon, dass Eltern das Geld versaufen. Ich kenne unglaublich viele Eltern, die selbst auf eine Mahlzeit verzichten, damit ihre Kinder genug zu essen haben. 

Wir müssten die Kindergrundsicherung in Bildung stecken, in Menschen, in Fachkräfte, in Erzieher, die gerade in Ballungsgebieten Kinder in den Schulen besser unterstützen. Kinder brauchen vor allem Ansprechpartner. Wir sollten dafür sorgen, dass Kinder nicht 15 Kilo Schulmaterial mit in die Schule schleppen, sondern die Digitalisierung nach vorne bringen. Jedes Kind sollte ein iPad haben, auf dem es lernen kann.

Bernd Siggelkow

"Das Schulsystem sollte sich am Kind orientieren und nicht das Kind am Schulsystem."

Das Lernen an sich sollte eine bessere Stellung haben. Dazu brauchen wir nicht nur Frontalunterricht. Das Schulsystem sollte sich am Kind orientieren und nicht das Kind am Schulsystem. Dann verändern wir etwas. 

Einerseits will die Bundesregierung Leute aus dem Ausland holen, um den Fachkräftemangel auszugleichen, andererseits sind da 50.000 Schulabgänger ohne Schulabschluss. Was für ein Unsinn ist das, wenn wir unsere eigenen Kinder nicht fit machen und dann von außen Menschen holen müssen. Das ist doch ein Armutszeugnis für unser Land. 

DOMRADIO.DE: Eine weitere provokative Forderung aus Ihrem Buch ist, dass Sie Politiker und Politikerinnen persönlich dafür geradestehen lassen wollen, wenn diese durch Unfähigkeit Steuergelder verschleudern. 

Klingelbeutel geht während einer Messe von Kirchgänger zu Kirchgänger. / © Jens Wolf (dpa)
Klingelbeutel geht während einer Messe von Kirchgänger zu Kirchgänger. / © Jens Wolf ( dpa )

Siggelkow:  Wenn ich Pastor bin und in meiner Kirche läuft irgendwas schief, muss ich den Klingelbeutel herumgehen lassen, muss ich für meine Probleme selbst bezahlen. 

Wenn ein Unternehmer wie Uli Hoeneß Steuern hinterzieht, muss er für drei Jahre ins Gefängnis. Aber Politiker können letztlich die Gesellschaft herunterwirtschaften und werden dafür nicht in Regress genommen. 

Ich als Normalbürger muss für meine Taten geradestehen. Warum nicht die Menschen in der Politik? 

DOMRADIO.DE: An diesem Sonntag werden Sie 60 Jahre alt. Wenn Sie sich etwas für die Kinder in Deutschland und für die Arche wünschen dürften, was wäre das? 

Bernd Siggelkow

"Ich wünsche mir, die Arche zu schließen, weil ich den Kampf gegen Kinderarmut gewinnen will."

Siggelkow: Ich wünsche mir, die Arche zu schließen, weil ich den Kampf gegen Kinderarmut gewinnen will. Das ist allerdings utopisch, weil es in Deutschland kein Konzept gegen Kinderarmut gibt, jedenfalls nicht von Seiten der Politik. Ich wünsche mir natürlich auch, dass wir allen Kindern gerecht werden können, was immer schwieriger wird, weil wir immer mehr Besucher haben.

Wir müssen leider immer mehr Einrichtungen eröffnen und das wird immer schwerer, weil wir nur von Spenden leben und dieser Kuchen wird leider nicht größer, sondern immer kleiner. Deswegen müssen wir ums Überleben kämpfen. Auf der anderen Seite hat es jedes Kind nötig und verdient, dass wir ihm mit Liebe und Respekt begegnen. 

Wir müssen alles dafür tun, dass es unseren Kindern gut geht und wir in Deutschland nicht sagen müssen, dass Kinder ein unkalkulierbares Armutsrisiko sind. Deswegen geht die Zahl der Geburten zurück. Ein Land, das sich reich nennt, müsste an Kinderreichtum gemessen werden. Da liegen wir ziemlich weit hinten. Das müssen wir noch nachbessern. Das wünsche ich mir zu meinem Geburtstag, dass es den Kindern in Deutschland gut geht. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Die Arche

Die Arche engagiert sich besonders für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen. Begonnen hat ihre Arbeit 1995 in Berlin auf Initiative von Pastor Bernd Siggelkow. Mittlerweile ist die Arche an 32 Standorten in ganz Deutschland aktiv und erreicht über 6.000 Kinder und Jugendliche mit kostenlosen Angeboten. Weitere Ableger gibt es zudem in der Schweiz und in Polen.

Der Verein „Die Arche - Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V.“ ist ein 1995 in Berlin gegründetes evangelisches Hilfswerk, das sich gegen Kinderarmut in Deutschland engagiert.  / © Christian Ditsch (epd)
Der Verein „Die Arche - Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V.“ ist ein 1995 in Berlin gegründetes evangelisches Hilfswerk, das sich gegen Kinderarmut in Deutschland engagiert. / © Christian Ditsch ( epd )
Quelle:
DR