DOMRADIO.DE: Die Situation von Kinderarmut hat sich in den vergangenen Jahren weiter verschärft. Wie kommt das?
Pastor Bernd Siggelkow (Gründer der Arche): Das liegt daran, dass die Politik nicht richtig reagiert hat, dass man arme Kinder sozusagen an den Rand der Gesellschaft gedrückt hat. Kinder haben keine Wählerstimmen und dadurch keine Lobby.
DOMRADIO.DE: Es gibt heute an 32 Orten in Deutschland Arche-Einrichtungen. Sie sagen, dass die etwa 6.000 Kinder und Jugendliche erreichen. Was merken Sie ganz konkret von der Armut dieser Kinder? Was fehlt denen?
Siggelkow: Vor allem in den letzten drei Jahren hat sich die Armut noch mal zugespitzt. Wir haben mittlerweile Kinder, die zum Teil im Februar 2020 in der Schule besser gewesen sind als heute. Die kommen einfach nicht mehr hinterher. Bildung kostet Geld, das arme Familien nicht haben.
Dann haben wir eine immer größer werdende Teuerungsrate. Manche Eltern verzichten mittlerweile selber auf eine Mahlzeit, damit ihre Kinder mit einem Frühstück in die Schule gehen können.
Auf der anderen Seite beobachten wir ein ganz großes Potenzial an Mobbing und Gewalttaten. Kinder können sich im Unterricht nicht mehr konzentrieren. Das sind auch die Folgen von Corona. Aber Armut ist schleichend, die vererbt sich leider auch.
DOMRADIO.DE: Der Krieg in der Ukraine, der Krieg in Nahost und weitere Krisen stehen im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Droht das Thema Kinderarmut in Deutschland hinten runterzufallen?
Siggelkow: Nein. Ich glaube, das Thema Kinderarmut bekommt dadurch mehr Facetten. Wir haben mehr geflüchtete Menschen, die zu uns kommen. Nicht nur Kinder, sondern auch Familien, die unbedingt Hilfe brauchen. Wir haben nicht genug Schul- und Kitaplätze für die Kinder in Deutschland, die wir jetzt neu reinlassen. Diese Kinder kommen zu diesen Armutszahlen dazu und bringen unsere Einrichtungen sozusagen weiter zum Überlaufen.
Wir stehen vor großen Herausforderungen wie dem Antisemitismus. In unseren Einrichtungen gibt es viele muslimische Kinder, die ein ganz klares Antibild gegen Juden haben. Da müssen wir ganz viel aufklären. Das heißt, die Themen, die wir haben, sind immer neu und werden immer brisanter.
DOMRADIO.DE: Sie planen am Freitag mit anderen Organisationen und Beteiligten einen deutschlandweiten Aktionstag gegen Kinderarmut und Ausgrenzung. Was kann man sich darunter vorstellen?
Siggelkow: Wir werden Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen in Deutschland besuchen und ihnen mit Kindern ein Foto übergeben. Auf dem Foto ist eine Bank mit dem Motto "Schiebt das Thema Kinderarmut nicht auf die lange Bank" abgebildet. Denn Kinderarmut dauert schon viel zu lange an. Wir müssen etwas dagegen tun.
Es wird ganz viele Aktionen geben. Die Palette reicht vom Fußballturnier bis zu Unterrichtsmaterialien, die Schulen zur Verfügung gestellt werden. Es beteiligen sich ganz viele Akteure, unter anderem Schulen, soziale Einrichtungen und freie Träger.
DOMRADIO.DE: Was erhoffen Sie sich? Was soll dieser Aktionstag bringen?
Siggelkow: Auf der einen Seite wollen wir, dass Kinder in den Fokus kommen und dass etwas gegen Kinderarmut getan wird. Eine Kindergrundsicherung, die im Grunde gut ist, muss aber auch beim Kind ankommen. Das ist das, was wir wollen. Man soll nicht nur Geld in Familien stecken, um Löcher zu stopfen, sondern Bildung ausbauen, den Kindern mehr Chancen geben, gerade was die Teilhabe betrifft.
Kinder sollten nicht von ihrer Bildung oder vom Einkommen der Eltern abhängig sein. Vielmehr müssen Bildungsstrategien kostenlos sein, sodass Kinder besser geschützt werden. Man muss etwas dagegen tun, dass so viele Kinder ohne Frühstück in die Schule gehen und sich gar nicht konzentrieren können. Das muss einfach in den Fokus der Öffentlichkeit und die muss Druck auf die Politik ausüben, damit die Rahmenbedingungen verbessert werden.
Das Interview führte Hilde Regeniter.