DOMRADIO.DE: Warum reden wir in so einem reichen Land wie Deutschland seit Jahren über das Thema Kinderarmut?
Eva Maria Welskop-Deffaa (Präsidentin des deutschen Caritas-Verbandes): Die Einkommenssituation der Familien, deren Eltern keine so wunderbare Ausbildung haben, die keinen Berufsabschluss haben, ist leider weiterhin relativ schlecht, im Vergleich zur Einkommensentwicklung insgesamt.
Wenn man dann ein Segment hat von Menschen, deren Nettoeinkommen niedrig ist, dann passiert es, dass ihre Kinder zu wenig haben für verschiedene Anliegen, zu wenig für den Schwimmbad-Besuch, zu wenig für ein Hobby. Das macht uns allen wirklich große Sorgen.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet das für Kinder?
Welskop-Deffaa: Die Kinder haben deutliche Empfindungen, dass ihnen etwas vorenthalten bleibt. Sie trauen sich dann auch persönlich weniger zu. Sie kapseln sich ab von Kindern, die besser situiert sind.
Das ist ja das Fatale an der Situation. Wenn in den frühen Lebensjahren solche Abkapselungs-Tendenzen entstehen, wenn die Kinder entmutigt werden, hinterlässt das Spuren über das ganze Leben. Dann traut sich womöglich auch der junge Erwachsene nicht zu eine Ausbildung zu starten, die nicht von Anfang an leicht zu sein scheint. Deswegen sagen wir: Die Hilfe muss am Anfang beginnen.
DOMRADIO.DE: Eigentlich sollte ja noch vor der Sommerpause die Kindergrundsicherung im Bundestag beschlossen werden. Das ist eine Bündelung der vielen unterschiedlichen Sozialleistungen, die bedürftigen Familien zustehen, die aber oft wegen der großen Bürokratie nicht abgerufen werden. Wäre denn diese Kindergrundsicherung ein wirklich schlagkräftiges Instrument gegen Kinderarmut?
Welskop-Deffaa: Wir haben uns als Deutscher Caritasverband seit langem dafür eingesetzt, dass die Inanspruchnahme von Transferleistungen leichter werden muss. Es ist ein Skandal, dass dieser Kinderzuschlag, die Zusatzleistungen für Familien im unteren Einkommensbereich nur von 30 bis 35 Prozent der Familien tatsächlich in Anspruch genommen wird, die einen Anspruch hätten.
Dass das so ist, liegt an den komplizierten Verfahren. Dann lässt man die Antragstellung lieber sein, weil man überhaupt nicht weiß, ob etwas am Ende rauskommt. Deswegen ist eine Vereinfachung der Inanspruchnahme der Leistungen, wie sie die Kindergrundsicherung verspricht, schon etwas, das dringend wünschenswert wäre. Es reicht alleine nicht aus. Deswegen hat die Kindergrundsicherung ja auch eine zweite Stufe. Man müsste auch die Beträge erhöhen, aber tatsächlich auch schon die erste Stufe wäre ein wichtiger Schritt.
DOMRADIO.DE: Wenn man mal Richtung Politik schaut. Die Ampelkoalition hat sich, das muss man sagen, wieder verhakt. Familienministerin Lisa Paus zum Beispiel veranschlagt dafür ja zwölf Milliarden Euro. Finanzminister Lindner will nur zwei Milliarden Euro ausgeben. Wenn man sieht, die Regierung hat drei Milliarden für den Tankrabatt ausgegeben, was geht Ihnen da durch den Kopf?
Welskop-Deffaa: Die Debatte, die wir jetzt in den letzten Monaten erleben, ist wirklich fatal. Sie macht das Problem größer, als es vorher war. Der Kinderreport gestern enthält wirklich super spannende Aussagen.
Die Menschen haben gar nicht das Gefühl gehabt, dass es am mangelnden Geld liegt, sondern sie haben erkannt, dass auch zum Beispiel infrastrukturell mehr getan werden muss, dass man mehr gute Kindergärten braucht. Aber jetzt, durch diese über Monate sich hinziehende Debatte, entsteht der Eindruck, die Politik ist bereit, für alles Geld auszugeben, nur nicht für Familien.
Damit fühlen sich genau die, die ohnehin schon auf der Verliererseite stehen, doppelt zurückgesetzt. Wer so Politik macht, riskiert wirklich den Zusammenhalt dieser Gesellschaft. Deswegen unser dringender Appell: Diese Regierung muss sich schnell zusammenraufen, um wirklich die Zukunft unseres Landes nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
Das Interview führte Verena Tröster.