Hannelore S. steht allein im Foyer der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg. Sorgfältig studiert sie die auf Tischen ausgebreiteten Flyer mit Angeboten für sozial Benachteiligte, Arme und Obdachlose. Sie hat Zeit. Ihr Leben lang habe sie gearbeitet, zuletzt als Altenpflegerin, und sei heute zu 80 Prozent schwerbehindert, erzählt die 68-jährige Rentnerin. "Aber jetzt falle ich durch alle Raster." Ihr Einkommen liege acht Euro über der Schwelle für die Grundsicherung - die laut der Deutschen Rentenversicherung bei 823 Euro liegt. Zum Mittagessen fahre sie täglich gut eine Stunde in die Suppenküche.
Die Nationale Armutskonferenz hat Menschen wie Hannelore S., die ihren vollen Namen nicht nennen möchte, am Mittwoch und Donnerstag in die Heilig-Kreuz-Kirche geladen. Das 12. Treffen von Menschen mit Armutserfahrung soll eine Möglichkeit zum Austausch bieten. Auch stehen Juristen für Fachfragen bereit und einige Bundestagsabgeordnete haben ihr Kommen angekündigt.
"Einmal richtig gehört werden"
Die Politiker interessieren die 68-jährige Alleinerziehende besonders: "Ich möchte einfach mal richtig gehört werden - nicht nur mit einem halben Ohr", sagt sie. In ihre Suppenküche kämen viele studierte Menschen und viele hätten ein Leben lang gearbeitet. "Es kann doch nicht sein, dass wir als Rentner nur so viel bekommen, wie jemand, der nie gearbeitet hat", sagt die Altenpflegerin wütend.
Für die Armutskonferenz - ein Zusammenschluss aus Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, Gewerkschaftsbund, Fachverbänden und Initiativen - ist eine Beteiligung von Bedürftigen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt entscheidend. Die Gruppe sei nicht sehr gut organisiert und fühle sich von der Politik übergangen, sagt die Sprecherin Barbara Eschen. Aus dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gehe hervor, dass politische Entscheidungen sich stark an den Interessen Besserverdienender orientierten, fügt Eschen hinzu.
Kernforderungen an die neue Bundesregierung
Die Nationale Armutskonferenz hat daher einige Kernforderungen an die neue Bundesregierung formuliert: Ein ausreichender Regelsatz in der Grundsicherung, mehr sozialer Wohnungsbau, keine Benachteiligung von Alleinerziehenden, weniger prekäre Arbeitsverhältnisse und eine gerechte Kindergrundsicherung. Sie hoffe, dass die armen Menschen zusammen ihr Stimme erheben, sagt Eschen.
Das Armutsrisiko in Deutschland lag nach Angaben des Statistischen Bundesamts im vergangenen Jahr mit 15,7 Prozent auf demselben Stand wie im Vorjahr und damit auf dem höchsten Niveau seit der Wiedervereinigung. Als "armutsgefährdet" gelten Haushalte, in denen sich das Nettoeinkommen auf weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung beläuft. Eine Definition, die in der Wissenschaft durchaus umstritten ist, etwa wegen der Einbeziehung von Studenten.
Wie aus den Daten der Statistiker weiter hervorgeht, sind vor allem Erwerbslose sowie Alleinerziehende und deren Kinder armutsgefährdet. Ende 2016 erhielten rund zwei Millionen Jugendliche unter 18 Jahren Hartz-IV-Leistungen.
Bildung als Schlüssel
Harald, der sich nur mit dem Vornamen vorstellt, hält Bildung für den Schlüssel. Ihn treibt die Kinderarmut um. "Kinder sind unsere Zukunft", sagt er. Der 65-Jährige aus Bremen ist seit 30 Jahren obdachlos, mittlerweile lebt er in einer selbstgebauten Hütte. Selbstgewählt. Er sei ein "Aussteiger", erzählt Harald. Als Maschinenbauingenieur habe er sich irgendwann für das Leben am Rand der Gesellschaft entschieden. Er sei jetzt glücklicher als zuvor.
"Ich gehöre der Gesellschaft an, aber bin nicht dem Konsum unterworfen", erzählt der 65-Jährige mit langem Rauschebart.
Doch er weiß, dass er unter den Wohnungslosen eine Ausnahme ist. 2014 hatten nach Daten der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 335.000 Menschen in Deutschland keine Wohnung, bis 2018 könnten es Schätzungen zufolge mehr als 530.000 sein. "Die meisten wollen zurück in ihr altes Leben", sagt Harald und fügt hinzu: "Jeder hat eine zweite Chance verdient."
Für Hannelore S. geht es weniger um die zweite Chance als um die Teilhabe an alltäglichen Dingen. Erfreut winkt sie mit einem Flyer für Trommelkurse. Allein deshalb habe sich das Kommen gelohnt, sagt sie. Sie liebe Trommelmusik.