Migration, Brexit, Eurostabilität - die vergangenen Jahre in Europa waren geprägt von Krisen. Improvisation war das Wort der Stunde, sagt der Professor für EU-Recht der niederländischen Universität Leiden, Luuk van Middelaar. Die EU-Staats- und Regierungschefs seien zu Kreativität gezwungen gewesen, um die neuen Problemlagen zu lösen. Der Weg dahin sei nicht stringent, sondern von Sackgassen und Umwegen geprägt gewesen, so der Wissenschaftler. Immer wieder wurde das Verhältnis von Solidarität und Verantwortung, Improvisation und Regulierung sowie die Macht der verschiedenen Mitgliedstaaten neu austariert.
25.000 Kandidaten unzähliger nationaler Parteien
Bei den Europawahlen vom 23. bis 26. Mai können 512 Millionen Europäer bestimmen, wie Europas Zukunft aussehen soll. "Wollen wir ein demokratisches, wertebasiertes und weltoffenes oder ein nationalistisches, autoritäres und undemokratisches Europa?", fragen die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland.
Europäer haben die Wahl zwischen rund 25.000 Kandidaten unzähliger nationaler Parteien. Im Europaparlament finden sich die 751 Abgeordneten dann nach politischer Richtung in Fraktionen zusammen, länderübergreifend. Zu den Kernkompetenzen des EU-Parlaments gehört die Mitarbeit an Gesetzen und am EU-Haushalt sowie die Überwachung der Arbeit der EU-Kommission und des Rats. 708 Rechtsakte hat das Parlament zwischen 2014 und 2018 verabschiedet.
Leitfragen zur Migration und Entwicklungszusammenarbeit
Zum zweiten Mal haben die Fraktionen europäische Spitzenkandidaten aufgestellt. Sie bewerben sich für das Amt des EU-Kommissionschefs, der von den Staats- und Regierungschefs sowie dem EU-Parlament gewählt wird. Für die Christdemokraten tritt der Niederbayer Manfred Weber (CSU) an. Seit 2014 leitet er die größte Fraktion im EU-Parlament, die Europäische Volkspartei. Ihm gegenüber steht der Niederländer Frans Timmermans für die Sozialdemokraten, derzeit Erster Vizepräsident der EU-Kommission.
Die Liberaldemokraten haben ein Team aus sieben Personen, unter anderem mit EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager aus Dänemark und dem Vorsitzenden der Liberalen im EU-Parlament, Guy Verhofstadt aus Belgien. Für die Grünen zieht die Ko-Vorsitzende der Parlamentsfraktion, Ska Keller, ins Rennen.
Christliche Organisationen wie Justitia et Pax Europa, der entwicklungspolitische Dachverband Venro und der Jesuitenflüchtlingsdienst haben Leitfragen zu Themen wie Migration und Entwicklungszusammenarbeit erarbeitet. Sie sollen Christen helfen, ihre Wahl zu treffen. Wie die Parteien zu den verschiedenen Themen stehen, dazu gibt der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung einen Überblick. Unterschiede gibt es etwa bei höheren Zielen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Während FDP und AfD dagegen sind, die CDU/CSU neutral, finden SPD, Grüne und Linke, die EU solle sich dafür einsetzen. Andere kontroverse Themen sind etwa der Aufbau einer gemeinsamen Armee, die EU-Unterstützung privater Seenotrettungsinitiativen im Mittelmeer oder die Einführung eines europäischen Mindestlohns.
Umfrage: Deutschen sehen EU positiv
Insgesamt sehen die Deutschen die EU laut Umfrage des EU-Parlaments positiv. Wenn sie wie die Briten über den Verbleib abstimmen könnten, würden sich 80 Prozent dafür aussprechen, deutlich mehr als der EU-Durchschnitt von 68 Prozent. 76 Prozent der Deutschen finden, die Mitgliedschaft sei eine "gute Sache". Europaweit war die Zustimmung nur nach dem Fall der Mauer 1989 so hoch.
Der Vorsitzende der EU-Bischofskommission, Luxemburgs Erzbischof Jean-Claude Hollerich, erinnerte an die positiven Aspekte der EU; sie nicht mehr zu sehen, sei eine "Torheit". Hollerich zeigte sich besorgt über wachsenden Populismus und Nationalismus. Im Februar erklärten die EU-Bischöfe: "Wählen ist nicht nur ein Recht und eine Pflicht, sondern auch die Möglichkeit, den Aufbau Europas konkret mitzugestalten."
Middelaar glaubt, dass im Gegensatz zu früheren Jahren diesmal mehr als zwei Fraktionen gebraucht werden, um eine Mehrheit im Parlament zu bilden. "Das ist eine gute Nachricht", sagte er dem Sender Euronews. Denn so könnte es weniger Raum für Absprachen zwischen den Parteien und offenere Themendiskussion geben. Dennoch: So viele ungewisse Faktoren gab es noch nie bei einer Europawahl.