DOMRADIO.DE: Wer die aktuelle Debatte in Deutschland verfolgt, bekommt den Eindruck, dass "das Boot voll" ist. Stimmt das gar nicht? Kommen die Hilferufe aus den betroffenen Städten zu Unrecht?
Ulrike Krause (Juniorprofessorin für Flucht- und Flüchtlingsforschung an der Universität Osnabrück): Die Zunahme der Zahlen ist natürlich richtig. Wir müssen sie aber global und in den Entwicklungen einordnen.
Wenn wir eine globale Perspektive einnehmen, sehen wir, dass 76 Prozent aller geflüchteten Menschen in Ländern im globalen Süden sind und die Mehrheit in benachbarte Staaten flieht. Das heißt, diese Rhetorik à la "Das Boot ist voll" oder "die Kapazitätsgrenze ist erreicht" ist erst einmal eine politische Rhetorik, die gar nicht in erster Linie von den Kommunen selbst ausgeht, sondern - zumindest aktuell - primär in der bundespolitischen Debatte zu hören ist.
Diese Debatte ist durchaus sehr gefährlich. Wenn auf Bundesebene darüber gesprochen wird, geht es immer wieder um Eingrenzung. Dabei sollten doch die unterschiedlichen Ebenen – die Kommunen, die Länder und der Bund – viel mehr zusammenarbeiten, die konkreten Herausforderungen besprechen und Wege nach vorne diskutieren, Lösungen diskutieren.
Wir wissen aus der Forschung durchaus, dass die konkreten lokalen Herausforderungen der Kommunen eben nicht immer in der Bundesregierung, in der Bundespolitik ankommen und entsprechend aufgenommen werden.
DOMRADIO.DE: In Ihrem Aufruf bemängeln Sie, dass die Debatte über Flucht und Asyl weitgehend faktenfrei geführt werde. Woran machen Sie das fest?
Krause: Wir sprechen in einem Moment, in dem wieder einmal Wahlen anstehen. Da ist "Flucht und Migration" ein Thema, das in den letzten Jahren immer wieder aufgegriffen wurde, um Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Herr Merz weiß beispielsweise ganz genau, dass geflüchtete Menschen nicht vordergründig nach Deutschland kommen, um einen Zahnarztbesuch durchführen zu können, sondern dass Flucht aufgrund von Verfolgung, Gewalt und gewaltsamen Konflikten erst einmal für das eigene Überleben zentral ist.
Das heißt, aktuell hören wir kaum noch Abwägungen, welche Herausforderungen bestehen und wie wir bestmöglich damit umgehen können. Vielmehr haben wir es mit einer gefährlichen Rhetorik zu tun, die polemisch wird, die einfach nur noch auf Klickzahlen und auf Aufmerksamkeit aus ist, aber nicht mehr auf eine ruhige, evidenzbasierte Diskussion gemeinsam mit der Gesellschaft. So eine Rhetorik will eben auch mobilisieren, und das ist gefährlich.
DOMRADIO.DE: Deutsche Politiker und Politikerinnen denken gerade darüber nach, wie sie sogenannte "Pull Faktoren" möglichst ausschalten, es also für Schutzsuchende in Deutschland möglichst unattraktiv gestalten können. Warum ist das in Ihren Augen gerade der falsche Weg?
Krause: Wenn wir uns vorstellen, in Deutschland wäre jetzt Krieg, wir müssten jetzt fliehen, wir hätten keine Lebensgrundlagen mehr, unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Familien, unsere Freunde hätten keine Möglichkeit mehr, sich zu versorgen, würden entrechtet werden, glauben Sie dann ernsthaft, dass es vor allem der "Pull Faktor" in einer anderen Region ist, warum Menschen dahin gehen? Nein!
Es sind doch vor allem die Ungewissheit, die Hilflosigkeit, die gewaltigen Herausforderungen von Menschen, warum sie überhaupt ihre Heimat verlassen. Nicht umsonst haben wir ein internationales System, das nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, mit Rechten von geflüchteten Menschen, festgesetzt allen voran in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951.
Geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs haben die Staatenvertreterinnen und -vertreter damals zusammengesessen und verhandelt, welche Rechte geflüchtete Menschen haben sollten. Das wird als historischer Meilenstein gefeiert.
Und was passiert jetzt in 2023? Da bemühen sich Politikerinnen und Politiker, die Aufnahme von geflüchteten Menschen so unmöglich und so unangenehm wie möglich zu machen, damit sie keinen Schutz gewähren brauchen.
Wo bleibt da die Erfahrung, wo das Lernen aus der Historie? Ich finde es absolut beschämend, wohin die Entwicklung gerade geht. Wenn Deutschland und Europa Teil der Weltgemeinschaft sein möchten, dann müssen Deutschland und Europa auch die Verantwortung tragen. Dann dürfen wir nicht einfach genießen, ein wirtschaftlich starkes Land zu sein, sondern wir müssen auch humanitäre Verantwortung tragen.
DOMRADIO.DE: Sie fordern deshalb einen Menschenrechtspakt in der Flüchtlingspolitik. Was sollte da konkret festgeschrieben sein?
Krause: Ich habe gerade die Genfer Flüchtlingskonvention erwähnt und ganz konkret haben wir damit ja bereits rechtliche Grundlagen sowohl völkerrechtlich in der Europäischen Union als auch in Deutschland. Diese Grundlagen sollten noch einmal erfasst, geklärt und konkretisiert werden. Wir sollten uns daran erinnern, dass diese Rechte der geflüchteten Menschen bestehen.
Wir brauchen die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Ebenen, also von Bund, Ländern und Kommunen. Auch damit die Herausforderung in den Kommunen auf Bundesebene gesehen und wertgeschätzt wird und daran angeknüpft wird.
Wir sollten damit aufhören, eine "One fits all"-Solution umzusetzen, also eine Lösung, die vermeintlich in ganz Deutschland, in allen Kommunen funktioniert. Stattdessen sollten wir die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen berücksichtigen.
Die Gesellschaft muss involviert werden, auch strukturell - damit diese gefährliche Mobilisierung der Menschen aufhört. Wir brauchen politische Strategien zur Aufnahme, zur Integration, zur Unterstützung und natürlich auch für die ersten Schritt zum Asylverfahren.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie die Rolle der Kirchen in dieser Debatte?
Krause: Die Kirchen, Religion an sich, spielen ja historisch eine ganz wichtige Rolle angesichts dieser Fluchtbewegungen. Auf der einen Seite denke ich da ans Kirchenasyl.
Ich glaube aber auch, dass die Kirche und auch Religion darüber hinaus, ganz wichtige Akteure in der gesellschaftlichen Debatte sind. Ihre Aufgabe liegt darin, gesellschaftliche Debatten auf der einen Seite anzuregen, ihnen also einen Raum zu geben, aber sich auch einzumischen, an gesellschaftliche, soziale Werte zu erinnern und natürlich auch Integration und Schutz mit bereitzustellen.
Religion an sich gibt Menschen viel Halt. Diesen Raum des Halts und der gegenseitigen Unterstützung zu geben, ist für die Kirche, aber auch für andere Religionen, ein zentrales Merkmal, das gerade Menschen, die viel Gewalt erlebt haben, einen wichtigen Raum, eine wichtige Möglichkeit gibt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.