Schon auf der ersten Seite zieht sich beim Lesen der Magen zusammen: Die französische Philosophin Corine Pelluchon listet in ihrem "Manifest für die Tiere" auf, wo Tiere nicht artgerecht behandelt, gequält und getötet werden. Von Tierversuchen über überfüllte Tierheime bis zu Schlachthäusern: "Überall dort herrschen Unglück und Ungerechtigkeit." So wie die Menschheit Tiere behandle, drohe sie ihre eigene Seele zu verlieren, schreibt Pelluchon.
Zunehmende Sensibilität für das Thema
Die Sensibilität für das Thema wächst - in der Bevölkerung und in der Wissenschaft. Das betrifft nicht nur die viel diskutierten Themen Fleischkonsum und Nutztierhaltung. Forscher haben etwa Saugroboter entwickelt, die Insekten erkennen und ihnen ausweichen. Auch bei autonomen Fahrzeugen wird über eine derartige Technologie diskutiert.
Genau solch eine breite Bewegung brauche es, mahnt die Philosophin Mara-Daria Cojocaru. Die Verantwortung dürfe nicht allein beim Konsumenten abgeladen werden, der beim Einkaufen sämtliche Probleme "von Kinderarbeit über Tierleid bis zum Klimawandel" lösen solle, erklärte sie kürzlich laut einer Mitteilung der Hochschule für Philosophie der Jesuiten. Um echte Alternativen zu entwickeln, brauche es einen Paradigmenwechsel - in der Agrarindustrie ebenso wie in den biomedizinischen Wissenschaften.
"Die Befreiung der Tiere"
Ein Grundlagenwerk der Tierethik ist bis heute das Buch "Die Befreiung der Tiere" (1975) von Peter Singer. Seine Kernthese: Das persönliche Interesse ist per se nicht mehr wert als das Interesse eines anderen Menschen oder auch eines Tieres. Die Idee, dass der Mensch dem Tier überlegen sei, entspringe einer falschen christlichen Annahme, wonach der Mensch die "Krönung der Schöpfung" sei, so Singer. Normen und Werte sollten sich deswegen auch nicht auf kirchliche Dogmen stützen. Der Vorreiter für Tierrechte gilt zugleich als Abtreibungsbefürworter; Behindertenverbände und Kirchenvertreter halten seine Thesen für menschenverachtend und gefährlich.
Doch seine mehrfach preisgekrönte Haltung zu Tierrechten wird weitergedacht. So betont die US-Philosophin Christine M. Korsgaard zwar die Unterschiede, die es zwischen Mensch und Tier gibt. Sie erneuert jedoch zugleich die Forderung nach dem Abschied von der Vorstellung, dass Menschen wichtiger seien als Tiere: Wer etwa der eigenen Mutter wichtiger sei als andere, bekomme dadurch im Allgemeinen keinen "irgendwie unbedingteren Wert".
Insofern lasse sich die Nutzung und das Leid von Tieren nicht damit rechtfertigen, dass der Mensch womöglich Gott wichtiger sei, so Korsgaard: "Gäbe es statt eines Gottes einen bösen Dämon, der Menschen als Futter für Krokodile erschaffen hätte, so wäre es für uns oder von unserem Standpunkt aus dennoch nichts Gutes, vom Krokodil gefressen zu werden."
Bewegung in der Theologie
Auch in der Theologie gibt es Bewegung. So verweist die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in einer aktuellen Denkschrift darauf, dass laut biblischer Schöpfungserzählung die menschlichen Verfügungsrechte beim Leben der Tiere enden. Die katholische Theologin Simone Horstmann hofft, dass sich die Haltung der Kirche zu Tieren verändern wird. Es handle sich um eine Zukunftsfrage, sagte sie kürzlich der "Zeit"-Beilage "Christ & Welt": "Auch an ihr wird sich zeigen, wie die Zukunft der Theologie und des Christentums aussehen wird."
Ein Großteil dessen, was Tiere erleiden müssten, sei nicht mehr notwendig, betonte Horstmann im Hinblick etwa auf Tierversuche. Und weiter: "Es muss Aufgabe der Theologie sein, hellhörig zu werden, wenn Gewalt und Tod zur Notwendigkeit verklärt werden, egal, um welche Lebewesen es sich handelt."
Ähnlich sieht es der Theologe Rainer Hagencord. Auf die Institution Kirche setzt er jedoch wenig Hoffnung. Eine Theologie, "die die Natur über Jahrhunderte als hübsche Kulisse oder als Ressourcenlager gesehen hat und die Tiere weiterhin zu seelenlosen Automaten degradiert", sieht er als mitverantwortlich für die ökologische Katastrophe. Auch Horstmann kritisiert die traditionelle Theologie, in deren Vorstellung vom Himmel die Tiere keinen Platz haben. "Es möchte doch niemand in den Himmel kommen, wenn befreundete Tiere dort nicht auf uns warten."
Dem dürften sich viele Tierfreunde anschließen. Horstmann sieht aber auch ein handfestes wissenschaftliches Problem: "Wenn Tiere am Ende nicht zählen, dann fällt es mir als Theologin schwer, ausgehend von dieser Tradition Argumente zu finden, warum Tiere überhaupt im irdischen Leben eine Rolle spielen sollen." So finde die Religion zu selten eine Sprache "dafür, dass das Leben anderer Lebewesen Bedeutung hat. An der Wirklichkeit der Schlachthöfe erschreckt doch vor allem, mit welcher gnadenlosen Selbstverständlichkeit dort im Sekundentakt getötet wird, als wäre es das Normalste der Welt."
Die Theologin wirbt für ein Umdenken. So könne man sich fragen: "Spricht denn etwas dafür, Kühe permanent schwanger zu halten und ihnen die Kinder wegzunehmen, die dann für ein paar Euro wie Abfallprodukte verscherbelt werden?" Die Welt der "sogenannten Nutztiere" sei "ein permanenter Albtraum, ein Leben, das fast nur aus Angst, Dunkelheit, Deprivation und Qual besteht. Das kann durch keinen Latte-macchiato-Genuss gerechtfertigt werden."
Horstmann beobachtet, dass "ein gewisses Befremden" gegenüber der Tiertheologie nachlasse. Hagencord freut sich nach eigenen Worten über diese Entwicklung. Er sagt aber auch: "Das ist viel zu spät." Die Kirche habe es versäumt, das Thema Ökologie in den Mittelpunkt zu rücken. "Wenn wir uns die Gottes- und Sinnfrage stellen, müssen wir die Tiere und die Umwelt in den Blick nehmen, statt ihnen den Rücken zuzukehren. Die aktuelle Ausrottungswelle ist in ihren Ausmaßen so groß wie beim Aussterben der Dinosaurier", mahnt Hagencord.
Daher müssten junge Menschen, die zunehmend in der digitalen Welt zu Hause seien, auch die natürliche Umwelt kennenlernen, fordert der Theologe. Dass die Natur die "eigentliche Heimat" des Menschen sei, hätten viele offenbar vergessen. Die Corona-Pandemie könnte, hofft Hagencord, zu einem Umdenken beitragen: "Wir sollten dieses unsägliche Ereignis nutzen, um zu retten, was noch zu retten ist."