DOMRADIO.DE: Sie befinden sich jetzt auf dem Sportplatz in Kuckum, dem Camps der Aktivistinnen und Aktivisten. Wie haben Sie denn die Stimmung gestern empfunden?
Anselm Meyer-Antz (Initiative "Die Kirche(n) im Dorf lassen"): Es war ein unendlicher Demonstrationsstrom. Die Polizei hatte, glaube ich, mit 6.000 Menschen gerechnet. Ich weiß nicht, wie man das so einschätzen kann; wie man davon ausgehen kann, dass so wenige Menschen kommen, wenn eine Gesellschaft sich so stark gegen ein Vorgehen des Staates wendet. Gott sei Dank sind viel, viel mehr Menschen gekommen. Gott sei Dank viele, viele junge Menschen.
Es war ein unendlicher Strom. Ich kann den Organisatoren nur meinen allergrößten Respekt aussprechen für das, was sie bewältigt haben. Nichtsdestotrotz brach es dann gegen Ende zusammen und ich persönlich habe den Eindruck, dass ab dem Zeitpunkt, wo es am Zaun von Lützerath eskalierte, die Polizei die Busse gestoppt hat, nicht mehr hat fahren lassen. Ich vermute mal schlicht und einfach, man wollte den Rückweg so schwierig wie möglich machen, um zu verhindern, dass sich in den nächsten Wochen eine so machtvolle Äußerung der Zivilgesellschaft wiederholt.
DOMRADIO.DE: Was meinen Sie, wo stehen Sie jetzt mit Ihrem Protest nach dieser Kundgebung, nach diesem Tag gestern?
Meyer-Antz: Ich selbst muss mich erst mal sortieren. Ich bin am Zaun in Lützerath auf einen ratlosen und argumentlosen Staat gestoßen, der deswegen in meinem Erleben – bitte sehen Sie mir das nach; das ist mein Standpunkt, ich äußere das jetzt so – für brutale Gewalt optiert hat. Die ersten aggressiven Akte gingen eindeutig von der Polizei aus. Die Polizei ist in die Menge hineingestürmt mit den schwarzen Helmen der Bundespolizei. Also nicht mit den Weißhelmen, die etwas weniger aggressiv vorgehen.
Ich selber bin mit dem Kreuz in der Hand, obwohl unsere ganze Gruppe die Hände als Zeichen der Gewaltfreiheit nach oben hielt, umgerannt worden und bin zu Boden gegangen. Ein Polizist hat versucht, mir das Kreuz zu entreißen und es war nur der mutigen, gewaltfreien Intervention anderer Aktivisten zu verdanken, dass diese Situation nicht völlig eskaliert ist. Es war deutlich zu erkennen, man wollte vonseiten der Polizei Gewalt in diese Auseinandersetzung tragen und von der Äußerung des Polizeipräsidenten Weinspach, man wollte hier eine fachlich saubere und deeskalierende Räumung vornehmen, ist nichts mehr übrig geblieben. Ich halte das für extrem unglaubwürdig.
DOMRADIO.DE: Wir werden das jetzt an der Stelle schlecht verifizieren können. Aus ganz Deutschland und auch dem nahen Ausland kamen die Menschen gestern nach Lützerath und Keyenberg. Was ist das für ein Signal?
Meyer-Antz: Ich setze noch einen drauf. Zu diesen 35.000 Menschen, auf die ich mich hier einigen würde, trat gestern noch eine Umfrage hinzu: 58 Prozent der Menschen in Deutschland wollen keine oberflächlichen Vergrößerungen der Kohlegruben mehr. Die Verantwortlichen können sich jetzt überlegen, was sie machen. Wollen sie sich über den Willen der Menschen hinwegsetzen? Wollen sie sich über das, was uns Christen wichtig ist, der Bewahrung der Schöpfung hinwegsetzen? Wollen sie weiter das Lied vom politischen Kompromiss singen, der nicht anders gehe und den man durchziehen müsse?
Oder wollen Sie wirklich zu einem politischen Programm zurückkehren, das gerade den jungen Menschen, die hier sind, eine Perspektive bietet, das nachhaltig ist? Ich bin meinem Arbeitgeber Misereor sehr, sehr dankbar, dass Pirmin Spiegel, der Hauptgeschäftsführer, vorgestern zu einem Moratorium bei dieser Räumung aufgerufen hat. Die Politiker und Politikerinnen haben es jetzt in der Hand. Sie sind in eine Sackgasse geraten, sie sind auf einen Irrweg.
DOMRADIO.DE: Und trotzdem müssen wir natürlich festhalten: Die komplette Räumung des Dorfes scheint ja nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Wie groß ist denn die Enttäuschung bei den Aktivistinnen und Aktivisten, dass das Engagement vor Ort dann offenbar nicht belohnt wird?
Meyer-Antz: Ja, das können Sie, wenn ich hier aus meinem Wohnwagenfenster gucke, in den Gesichtern ablesen. Da sind tief deprimierte, traumatisierte Gesichter. Da sind aber auch euphorische Gesichter. Was die Diskussionen angeht, da ist ein ungeheurer Verlust. Und in den letzten Tagen ist wieder und wieder von anderer Seite versucht worden zu etablieren, in Lützerath hätten keine Menschen mehr gelebt, sondern nur Aktivisten. Das ist ein völlig falscher Rahmen.
Da haben junge Menschen zusammengelebt, sie haben ihre Perspektiven neu entwickelt. Das war sicherlich alles nicht so furchtbar toll, aber es sind Menschen in ihre Zukunft aufgebrochen, und die haben das verloren. Das ist furchtbar und es ist auch nicht verantwortlich, ihnen das so wegzunehmen – vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es Gutachten gibt, die deutlich zeigen, dass es gar nicht nötig gewesen wäre.
Es gibt auf der anderen Seite durchaus politische Perspektiven. Direkt hinter Lützerath gibt es nun einen Zusammenschluss von Grundbesitzern, die nicht einfach aufgeben wollen. Die durch Eckardt Heukamp, der übrigens gestern in seiner ruhigen und beständigen Art mitten im Getümmel dabei war, ermutigt sind, den Staffelstab aufzunehmen. Und es gibt erste Hinweise, dass einer dieser Grundbesitzer zu einem neuen Protestcamp einladen will. Ich habe auch noch nicht gehört, dass die beiden Menschen im Tunnel heraufgekommen wären; ich konnte das so nicht sehen. Ich nehme an, dass sie früher oder später herauskommen werden.
Dieses lange Rückzugsgefecht in Lützerath dient dazu, dass unsere Gesellschaft zur Umkehr findet, zur Bewahrung der Schöpfung und zu anderen Perspektiven im Bereich der Energiegewinnung. Und ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Einen Konzern wie RWE braucht niemand. Niemand braucht dieses rücksichtslose Durchsetzen eines Unternehmenskonzeptes, das jetzt schon zukunftslos ist.
Dsa Interview führte Carsten Döpp.