DOMRADIO.DE: Wie reagieren Sie auf solche Meldungen?
Ursula Enders (Leiterin bei Zartbitter in Köln): Mich erstaunt es nicht, weil wir schon häufiger solche großen komplexen Fälle hatten. Ich erinnere mich an Fälle von organisiertem Verbrechen in den 1990er Jahren. Ich erinnere mich an ganze Familienclans. Damals wurde das noch nicht in den Medien breitgetreten.
Ich bedauere die Opfer und zugleich bin ich ein Stück erleichtert, dass endlich mal die Aufmerksamkeit auf diese Fälle gerichtet wird.
DOMRADIO.DE: 23 Opfer wurden über zehn Jahre lang missbraucht. Was brauchen die Betroffenen jetzt am dringendsten?
Enders: Was brauchen sie vor allen Dingen nicht? Sie können keine Gaffer gebrauchen. Sie brauchen einen normalen Alltag und nicht Menschen, die über sie tuscheln und reden, wenn sie vorbeigehen. Sie müssen spielen dürfen. Sie brauchen wirklich Normalität. Und daneben brauchen sie sicherlich traumatherapeutische Angebote.
DOMRADIO.DE: Tatort ist ein Campingplatz, ein vermeintlich öffentlicher Bereich. Wie ist es möglich, dass der Haupttäter dort so viele Opfer missbrauchen konnten?
Enders: Ich habe schon öfters Fälle auf Campingplätzen gehabt - wenn auch nicht in dieser Opferzahl. Aber das Phänomen ist mir nicht neu. Auf Campingplätzen herrscht oft eine "Kumpel"-Atmosphäre. Da heißt es: Der geht ein bisschen weiter. Der ist ein bisschen dummdreist. Das muss man nicht so ernst nehmen.
Ich denke, es hat viele Hinweise gegeben. Aber man hat sie nicht konsequent zu Ende gedacht. Außerdem gehe ich davon aus, dass der Täter sich als sehr kinderlieb dargestellt hat und vor allen Dingen darauf geachtet hat, dass die Wahrnehmung der Umwelt vernebelt wird, damit sie nicht misstrauisch ist.
DOMRADIO.DE: Aber wie ist es möglich, dass die Vernebelung von Missbrauch immer wieder funktioniert und teilweise jahrelang Menschen, die direkt daneben wohnen, nichts mitbekommen?
Enders: Das liegt an einem Defizit an öffentlicher Aufklärungsarbeit. Wir brauchen unbedingt wirklich gute Informationen über Täterstrategien und zwar auch Informationen für Eltern, Freunde und Kindern. Denn die meisten Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch bekommt man von den Tätern selber, die ja die Kinder zum Schweigen bringen. Auffallend sind zum Beispiel übergroße Geschenke, sexistische Sprüche, Schleimen oder wenn sich Erwachsene vorrangig mit Kindern beschäftigen.
DOMRADIO.DE: Was tue ich, wenn ich etwas mitbekomme?
Enders: Dann hoffe ich, dass es in ihrer Nähe eine Beratungsstelle gibt. Aber da haben wir das Pech, dass diese von der Politik noch nicht finanziell abgesichert sind. In NRW gibt es auch noch keine Förderung der Beratungsstellen, zum Beispiel analog der Frauen-Beratungsstellen. Das müsste es längst geben.
DOMRADIO.DE: Was wäre Ihre Forderung an die Politik?
Enders: Ja, die Politiker müssen flächendeckende Beratungsstellen einrichten, wo Menschen mit ihrer Vermutung hingehen können. Oft können wir beruhigen und sagen: Jetzt machen Sie sich mal nicht so viele Sorgen. Aber wir überlegen auch, wie man das Kind ansprechen kann ohne ihm Angst zu machen.
Wir überlegen mit den Menschen zusammen. Wir möchten ja die Kinder unterstützen. Deshalb müssen wir mehr Möglichkeiten anbieten, um eine Vermutung auszusprechen. Wir machen immer wieder die Erfahrung: Wenn Menschen ruhig und gelassen das Thema ansprechen, erleben Kinder sie als vertrauenswürdig - und erzählen auch sehr viel mehr.
DOMRADIO.DE: Sie beschäftigen sich seit 40 Jahren mit diesem Thema Prävention von sexuellem Missbrauch. Wie bewerten Sie zurzeit die Situation in Deutschland - im Vergleich zu vor 40 Jahren?
Enders: Damals war es gefährlich, zu dem Thema zu arbeiten. Es gab Verfolgung, es gab Morddrohungen - das gibt es heute nicht mehr. Das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Bevölkerung ist sehr viel aufmerksamer und Fälle werden heute eher bekannt.
Das Drama, was wir wirklich haben und was mich außerordentlich erschüttert ist, dass die Politik dem nicht nachgekommen ist und bis heute keine adäquaten Hilfen abgesichert hat. Das ist bundesweit so. Man hat natürlich einen unabhängigen Beauftragten eingesetzt, man hat Funktionsträger eingesetzt.
Aber in der Praxis ist nichts angekommen. Ich möchte nicht, dass wir politische Alibi-Maßnahmen haben über Funktionen. Wir brauchen Funktionsträger. Es ist wichtig, das Thema zu halten und da bewegt sich auch was. Aber politisch verantwortlich ist nur der Landtagsabgeordnete, die Bundestagsabgeordnete, die Kommunalpolitiker, die wirklich die Absicherung garantieren.
Das Gespräch führte Martin Mölder.