DOMRADIO.DE: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sehen, wie - auch bei Ihnen in Berlin - Menschen israelische Opfer bejubeln und dabei "Allahu Akbar" rufen?
Kadir Sanci (Religionswissenschaftler und Imam im "House of One“ in Berlin): Bestürzung und Enttäuschung. Aber glücklicherweise kein Frust, weil wir schon so lange an der Friedensidee arbeiten, dass wir überzeugt davon sind, dass wir das trotz Rückschlägen schaffen werden. Es ist ein Ansporn, uns noch mehr für den Frieden einzusetzen und zu überlegen, wie wir auch solche Menschen erreichen und von unserer Idee überzeugen können.
DOMRADIO.DE: Islamischer Dschihad und Hamas geben vor, diese Taten im Namen Allahs zu begehen. Sprechen Sie diesen Menschen ihr Muslimischsein ab?
Sanci: Ich kann niemandem den Glauben nehmen oder ihm absprechen. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er Muslim ist oder nicht. Meiner Meinung nach geht es auch vielmehr um die Frage, ob jemand friedfertig oder gewalttätig ist, wir müssen die Kategorien umdenken. Muslime haben in der Regel Verbindung zu einer muslimischen Gemeinde und wir können diesen Menschen helfen, von einem Lager, das ich für das falsche halte, weil es Gewalt befürwortet, in das andere, friedvolle Lager zu kommen.
Man muss fragen: Woher kommt die Gewalt? Ich bin auch wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam und ich bin gemeinsam mit meinem Kollegen in einem Artikel dieser Frage nachgegangen: Der Islam wurde vor Jahrhunderten in eine kriegerische Zeit hinein geboren, als er sich verteidigen musste, weil ihm noch keine Religionsfreiheit zugesprochen wurde. Aber der Prophet hat sich immer für den Frieden eingesetzt. In der Sure 5 Vers 32 heißt es: "Wenn Ihr einen Menschen tötet, ist es, wie wenn Ihr die ganze Menschheit tötet. Wenn Ihr einen Menschen rettet, ist es, wie wenn Ihr die ganze Menschheit rettet“. Das ist ein Grundsatz des Islam, danach richte ich mich und deshalb werde ich nicht zulassen, dass Gewalt im Namen des Islam verherrlicht wird.
Heute geht es nicht mehr um das Überleben des Islams, wir haben heute andere Werkzeuge und Möglichkeiten, uns für unsere Religion einzusetzen. Wir haben in den letzten Jahrhunderten gelernt, dass Gewalt keine Lösung ist und nicht zum Ziel führt.
DOMRADIO.DE: Viele Islamverbände in Deutschland haben sich in den vergangenen Tagen nicht eindeutig vom Hamas-Terror und dem Antisemitismus abgegrenzt. Der "Zentralrat der Muslime" rief beispielsweise alle Seiten dazu auf, die Kampfhandlungen einzustellen, obwohl der Angriff von der Hamas ausgegangen war und Israel sich verteidigte. Ärgert Sie so etwas?
Sanci: Der Islam ist in Deutschland ganz anders organisiert und ich fühle mich von manchen Verbänden gar nicht vertreten. Ich stehe für mich, spreche für mich und gehöre zu denen, die ganz schnell reagiert und ein Friedensgebet mit meinen jüdischen und christlichen Freundinnen und Freunden organisiert haben. Wir haben gemeinsam mit dem "Rat der Berliner Imame" sofort eine Stellungnahme veröffentlicht, die 18 Imame unterschrieben haben. Das ist nicht wenig. Wir sind eine starke Stimme und wir werden immer mehr.
Wenn man das mit dem 11. September 2001 vergleicht: Damals waren viele Muslime verunsichert und wussten nicht, wie sie sich positionieren sollten. Aber die Muslime haben gelernt: Heutzutage reagieren sie viel schneller und grenzen sich von der Gewalt ab. Das ist der richtige Weg und ich bin überzeugt davon, dass früher oder später alle Verbände in Deutschland zu dieser Erkenntnis gelangen werden.
DOMRADIO.DE: Wie schwer ist es nach solchen Ereignissen wie in Israel, für multireligiöses Miteinander und Toleranz zu werben? Und von der Friedfertigkeit von Religionen zu überzeugen?
Sanci: Um andere von etwas zu überzeugen, muss man selbst von etwas überzeugt sein. Es war nicht das erste Mal: Krisen, Gewalt und aktuelle Ereignisse auf der ganzen Welt stellen uns auf eine harte Probe. Aber ich habe jedes Mal beobachtet, dass wir mehr zusammenwachsen. Dass meine Brüder Rabbi Andreas Nachama und Pfarrer Gregor Hohberg stärker zueinander gefunden haben und in einem Lager stehen. Das tragen wir nach außen und deswegen können wir überzeugen.
Die letzten Tage haben gezeigt, dass die Menschen das auch brauchen, viele haben sich an uns gewandt und gesagt, dass sie froh sind, dass es uns gibt. Heute kam zu unserer Infobox des "House of One" am Petriplatz ein israelischer Restaurantbesitzer, der mich mit "Salam Aleikum" begrüßte. Wir kamen ins Gespräch und er hat mir von seinem Leid erzählt, aber auch von dem der Palästinenser. Das sind die Menschen, für die wir ein Sprachrohr sein wollen. Diese Menschen sind nicht für die eine oder die andere Seite, diese Menschen wollen, dass alle geschützt und alle Opfer betrauert werden. Alle Menschen verdienen Frieden.
DOMRADIO.DE: Das "House of One" ist ein multireligiöses Projekt, aber man gelangt zu dem Eindruck, dass das friedliche Miteinander zwar im Kleinen funktioniert aber nicht auf globaler Ebene. Woher nehmen Sie eigentlich Ihren Optimismus, dass sich Ihre Position am Ende durchsetzen wird?
Sanci: Für uns gibt es keine Alternative. Und ich bin überzeugt davon, dass das der richtige Weg ist, man muss einfach in die Geschichte schauen: Kriege haben in der Vergangenheit noch nie Frieden gebracht. Aber trotzdem war Frieden möglich: Hier in Berlin war 1989 eine friedliche Revolution möglich. Deutschland und Frankreich haben ihre Feindschaft überwunden und wurden zum gemeinsamen Motor Europas. Das ist doch alles möglich! Wir sprechen nicht von einer Utopie, sondern von einer historischen Erfahrung. Es braucht nur den Willen und wir sind diejenigen, die davon überzeugt sind und das wollen.
DOMRADIO.DE: Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Ereignisse der letzten Tage weitere Vorurteile befeuern? Auch wenn die meisten Muslime hierzulande Gewalt und Antisemitismus ablehnen, ist schon jetzt eine Mehrheit der Deutschen Umfragen zufolge der Auffassung, dass die Zuwanderung von Menschen aus stark muslimisch geprägten Ländern ein hohes Sicherheitsrisiko für Deutschland darstellt.
Sanci: Natürlich, die Welt ist kleiner geworden. Alles, was im Heiligen Land passiert, hat auch Einfluss auf unsere Situation hier in Deutschland in Form von Ausschreitungen und randalierenden Jugendlichen. Das verurteilen wir. Wir beobachten aber auch eine politische Instrumentalisierung durch bestimmte Parteien. Aber was soll ich machen, soll ich aufgeben? Das kommt gar nicht infrage, wir werden weitermachen und uns für ein friedliches Miteinander einsetzen.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.