DOMRADIO.DE: Mit dem Angebot "Ersthilfe bei Trauer und Tod" haben Sie ein neues Projekt ins Leben gerufen, weil Sie sagen, dass emotionale Ersthilfe genauso wichtig ist wie medizinische Notfallversorgung. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
David Roth (Bestatter und Trauerbegleiter): Für Angehörige ist es ein traumatisches Erlebnis, wenn die Polizei bei unbekannter Todesursache den Leichnam eines Verstorbenen beschlagnahmt. In meinem Alltag als Bestatter erlebe ich immer häufiger, dass Menschen dann mit ihrer Trauer ganz alleine sind. Auch wenn es zynisch klingt, aber unter uns Bestattern ist es schon fast ein geflügeltes Wort, dass man am besten nicht gerade in der Zeit zwischen Freitagmittag und Montagmorgen stirbt, weil dann kaum jemand erreichbar ist, jedenfalls kein Hausarzt, der womöglich die Vorerkrankungen des Toten kannte und damit ein solches amtliches Vorgehen hätte verhindern können. Also wird im Todesfall der Rettungsdienst gerufen – auch um nichts falsch zu machen. Der aber hat nicht die Zeit, eine Krankheitsgeschichte zu recherchieren. Und wenn die Todesursache nicht an Ort und Stelle geklärt werden kann, wird der Leichnam abtransportiert. Die Unterlagen gehen zur Staatsanwaltschaft, und dann befinden sich die Angehörigen tagelang in einem Vakuum, in dem es keine Form der Betreuung gibt.
Oder aber hochbetagte Paare unterstützen sich bis zum letzten Moment gegenseitig, haben keine Kinder oder Enkel, und mit einem Mal stirbt der eine von den beiden. Meist hat man sich vorher nie damit befasst, was geschieht, wenn der andere plötzlich nicht mehr da ist. Die Nachbarschaft reagiert schnell überfordert und eine institutionelle Begleitung existiert in einem solchen Fall nicht. Am Ende ist das auch ein Einsamkeitsthema. Der Betroffene wird von seiner eigenen Hilflosigkeit, die zu dem Schmerz des Verlustes noch dazu kommt, regelrecht überrollt. Von keiner Seite kann er Unterstützung erwarten.
Mir geht es dann darum – und hier setzt unser Projekt an – eine nahe Person, so etwas wie einen "professionellen" Nachbarn zur Verfügung zu stellen, der auf genau diese Aufgabe vorbereitet ist und dem Angehörigen in seiner Trauer, in diesem Moment des Schocks und der Verzweiflung ein Gegenüber ist. Denn die meisten Betroffenen erleben für sich ja eine zutiefst irreale Situation. Der Mensch, mit dem ich gerade noch am Tisch gesessen habe, ist einfach weg. Das ist rational nicht zu verstehen. Nichts ist mehr zum Berühren oder Begreifen da, was noch konkret wäre. Ich bin allein und völlig erschlagen von meinem Leid, unfähig klar zu denken, geschweige denn zu handeln.
DOMRADIO.DE: Und was können dann diese ehrenamtlichen Ersthelferinnen und Ersthelfer leisten? Sichern sie erst einmal psychologisch – analog zum medizinischen Ersthelfer – das unmittelbare "Überleben"? Oder welche Form der Hilfe bieten sie an?
Roth: Die notwendige Unterstützung dafür, um in diesem Moment überhaupt erst einmal anzukommen. Ersthelfer sind gute Zuhörer, sie wissen aber auch, was in dieser Situation ganz praktisch zu tun ist. Sie nehmen die bestehenden Bedürfnisse des trauernden Angehörigen sensibel wahr und sind vor allem dafür da, die akute Trauer mit auszuhalten und dann auch Mut zu machen, Abschied von dem Verstorbenen zu nehmen, sobald das möglich ist. Denn es handelt sich ja selbst in den eigenen vier Wänden laut Polizei um einen "Tatort", den der Angehörige unter Umständen auch verlassen muss. Das ist das Ausgangsszenario, aus dem heraus die Idee zum Ersthelfer entstanden ist.
Aber auch in anderen Situationen bedürfen Menschen bei einem plötzlichen Todesfall eines hohen Betreuungsaufwands, weil kein soziales Netz mehr trägt, das sie auffangen könnte: keine Verwandtschaft, nur bedingt – wie gesagt – die Nachbarschaft, und Freunde sind oft ebenfalls hochbetagt. Wir sterben heute in einem viel höheren Alter bei viel besserer Verfassung, so dass es dieses unvermutete Versterben immer seltener gibt. Und trotzdem passiert das.
Selbst bei tragischen Unfällen stehen nicht immer sofort Notfallseelsorger zur Verfügung. Auch deren Netzwerk ist inzwischen deutlich dünner gesät, so dass kaum noch ausreichend Menschen einen solchen Dienst der Ersthilfe leisten können. Und wenn, dann sind sie nach zwei Stunden wieder durch die Tür. Folglich bleibt der Angehörige mit seiner Trauer wieder allein.
Ein ganz wichtiges Thema ist für mich in diesem Kontext das Begreifen: dass da jemand ist, der zuhört und mir konkret anbietet, mit mir zu meinem Verstorbenen zu gehen, mich zu begleiten, mich vielleicht auch zu fahren, meine Gedanken aufzunehmen, ansprechbar zu sein und Kontakt zu halten. Aus diesem Begreifen heraus kommen dann mitunter auch Fragen: Will ich, dass ein Pfarrer kommt? Wünsche ich bestimmte Rituale, die der Ersthelfer unterstützen und auch kanalisieren kann? Außerdem könnte er auch Perspektiven über dieses Ereignis hinaus mit dem Betroffenen entwickeln: zum Beispiel, dass jemand trotz Pflegebedarfs in der eigenen Wohnung bleiben kann oder – wenn das nicht geht – eben einen Betreuungsplatz für ihn in einer Senioreneinrichtung gesucht wird und dass er über den Tod des Partners hinaus auch so etwas wie Lebensfreude wiederfindet. Selbst dafür ist ein Ersthelfer da.
Für uns ist das zunächst ein Pilotprojekt, aus dem wir sicher viel lernen werden. Ersthelfer sollen Menschen, die in ihrer Trauer total einsam sind, die ersten Schritte auf ihrem langen Weg der Trauer erleichtern. Das ist unser Ansatz.
DOMRADIO.DE: Welche Voraussetzungen müssen diese Menschen mitbringen, die für andere in ihrer Trauer da sein wollen? Und wie werden sie auf ihren Einsatz vorbereitet?
Roth: Sie sollten Interesse an anderen Menschen haben, Empathie mitbringen, zuhören können. Die Kriterien sind denen von Hospizhelfern vergleichbar. Gemeinsam mit Stephanie Gotthardt von der KOR Academy, Expertin für die Verarbeitung von Trauerprozessen nach einem Todesfall und anderen Verlust- und Veränderungsprozessen in menschlichen Lebenskrisen, bilde ich ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter zu dieser Aufgabe in einem dreitägigen Seminar aus, bei dem wir den Teilnehmenden konkretes Handwerkszeug mitgeben. Dabei bilden die Grundlage für dieses Programm – ganz unabhängig davon, ob der Todesfall plötzlich oder absehbar eintritt – intensive Erfahrungen aus Bestattung, Trauerbegleitung und Hospizarbeit.
Unsere Ersthelferinnen und Ersthelfer sind darauf vorbereitet, in tiefer Krise und Sprachlosigkeit mitmenschliche Unterstützung anzubieten. Sie helfen, erste Orientierung zu finden, die für Hinterbliebene oft drohende Einsamkeit zu vermeiden, und stehen sechs Wochen lang Angehörigen nach dem Verlust eines Menschen zur Seite. Danach wird geschaut, ob diese dann eventuell eine längerfristige, vielleicht sogar professionelle Trauerbegleitung benötigen. Gleichzeitig werden diese Bewerberinnen und Bewerber Teil des Hospizvereins "Die Brücke", mit dem ich hier in Bergisch Gladbach eng zusammenarbeite, weil er den gesetzlichen Rahmen – auch was Versicherungen etc. angeht – für dieses Engagement bietet. Ich selbst habe früher auch einmal im Hospiz gearbeitet: bei den Pallottinerinnen in Bensberg, die vor etwa 30 Jahren das erste Hospiz in der Region gründeten. Aus Erfahrung weiß ich, dass Hospizmitarbeiter in der Regel sehr lebensbejahende und -frohe Menschen sind, also eine bereichernde Gemeinschaft, in die ein solches Ehrenamt gut eingebettet ist. Diese Arbeit so nah an den Menschen am Ende ihres Lebens mit allen diesen intensiven Erfahrungen, die man im Austausch mit Sterbenden macht, möchte ich nicht missen.
DOMRADIO.DE: Sie erwähnten es anfangs bereits: Normalerweise würde man erwarten, dass Verwandte, Freunde oder Nachbarn sich um akut Trauernde kümmern. So war es jedenfalls früher einmal. Greift dieses soziale Netz in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr?
Roth: Ich beobachte, dass Menschen heute zunehmend einsamer und isolierter sind. Manche kennen nicht einmal mehr ihre Nachbarn. Aber auch grundsätzlich sind wir nicht mehr so aktiv wie früher – auch ehrenamtlich nicht. Es gibt viele Singlehaushalte oder Paare ohne Kinder. Oder die eigenen Kinder sind weit weg und bekommen gerade mal zwei Tage Sonderurlaub für den Tod der Mutter oder des Vaters. Andererseits sind wir eine sehr mobile Gesellschaft geworden, gerade hier im Speckgürtel einer Großstadt wie Köln, so dass viele Menschen mit den Themen Sterben und Trauern alleine sind und sich vorher auch nicht groß damit befasst haben. Den Tod eines geliebten Menschen möchte man nicht wahrhaben, nicht adressieren, also sind dementsprechend auch keine Vorkehrungen getroffen worden. Folglich gibt es auch keine Vorbilder für solche Betreuungssituationen im Todesfall, so dass viele auch gar keine Vorstellung von ihren Bedürfnissen haben, weil sie bislang nur auf ihren eigenen Partner fokussiert waren. Und wir erleben dann, dass es da durchaus viele Bedarfe gibt – auch emotionaler Art.
DOMRADIO.DE: Das heißt, mit Ihren Ersthelfern geben Sie auch ein Stück Lebenshilfe?
Roth: Was nicht bedeutet, dass die nun für den täglichen Einkauf oder gar als rechtliche Betreuer zur Verfügung stehen. Nochmal – und das ist der Mehrwert dieses Angebots: Da ist erst einmal jemand, der sich in die Bedürfnislage des anderen hineinversetzt, sich verantwortlich fühlt und bei anstehenden Entscheidungen – auch was die Art und Weise der zu regelnden Trauerfeier und Beisetzung angeht – aus der oft totalen Hilflosigkeit und Überforderung heraushilft.
DOMRADIO.DE: Tote bestatten und Trauernde trösten gehört zu den sieben Werken der Barmherzigkeit. Sind bei Trauerbegleitung nicht zu allererst die Kirchen in der Pflicht? Wie nehmen Sie das wahr?
Roth: Das ist heute ja zuallererst eine Frage der Zugehörigkeit. Und selbst dann reduziert sich die Rolle der Kirche meist auf das Trauergespräch, das oft schnell abgewickelt wird, und die punktuelle Begegnung bei der Beerdigung. Da vermisse ich schon auch strukturierte Angebote der Kirche wie Trauerbegleitung oder einen Besuchsdienst, wie ihn die Gemeinden im Krankheitsfall oder bei Ehejubiläen und runden Geburtstagen manchmal noch wahrnehmen. Andererseits möchte ja gerade die Kirche Gemeinschaft bieten. Und dann ist es wichtig, auf Menschen in Notsituation zuzugehen. Aber es gibt eben auch viele Menschen, die nicht mehr religiös oder konfessionell gebunden sind. Da hat sich unsere Gesellschaft schon massiv verändert, während wir früher in unseren Vierteln oder auf den Dörfern ganz anders miteinander gelebt haben, als die Kirche noch selbstverständlicher Bestandteil des Lebens und auch Bindeglied zwischen den Menschen war.
Heute gibt es diesbezüglich eher einen Mangel an Gemeinschaft, so dass vieles nicht mehr stattfindet oder personell nicht mehr geleistet werden kann. Dabei sehe ich gerade in diesem Dienst, Trauernde zu trösten, wie Sie schon sagten, eine Kernkompetenz der Kirche, die einer Selbstverpflichtung gleichkommt. Zumal für nicht wenige die Kirche bei einer Verlusterfahrung mit einem Mal auch wieder ganz aktuell wird und sie den Sinn von Spiritualität erkennen, wenn sie sich in einer derart existenziellen Situation wie hier bei uns im Bestattungshaus wiederfinden – selbst wenn sie der Kirche längst den Rücken gekehrt haben. Und dann bauen wir selbstverständlich Brücken. In diesem Kontext ist es jedenfalls segensreich, wenn man in unserem Bistum den Wunsch nach einer katholischen Beerdigung erfüllt bekommt, egal ob man Mitglied ist oder nicht.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie würden sich von der Kirche so etwas wie eine "Nachsorge" wünschen?
Roth: Das wäre toll! Nicht jeder braucht eine Trauerbegleitung, und Trauer ist auch keine Krankheit, die man therapieren muss. Aber es braucht Menschen, vertraute Bezugspersonen, bei denen ich aufgehoben bin. Das kann der Pfarrer genauso wie ein Gemeindemitglied sein und ist am Ende eine Frage von lebendiger Gemeinde. Gerade wenn ich in Not bin, ist die Seelsorge doch in allererster Linie gefragt. Auch für die Kirche macht es perspektivisch Sinn, gerade dann präsent zu sein.
DOMRADIO.DE: Was ist Ihnen bei dieser Form der Trauerbegleitung, wie Sie sie nun neu anbieten, so wichtig?
Roth: Wir leben in einer Gesellschaft, die mit dem Tod nicht mehr vertraut ist. Mir geht es darum, dass wir aber genau das wieder lernen. Vielleicht inspiriert dieses Ehrenamt auch andere, mit diesem Thema umzugehen, ja, Zutrauen zu entwickeln, denn letztlich kann man bei Trauerbegleitung nicht wirklich etwas falsch machen. Trauerbegleitung impliziert, ohne Scheu aufeinander zuzugehen. Das Einfachste ist doch zu fragen: Wie geht es Dir? Und dann kommt der Moment, wo ich aushalte, dass der andere mir antwortet, und Zeit habe, Anteil nehme durch Berührung, Mitdenken, Ermutigen, ich vielleicht das Lied spiele, bei dem man das erste Mal miteinander getanzt hat.
Oder es kommen Fragen: Begleiten Sie mich beim Weg in die Kirche? Es geht um verstehende Augenblicke; um die Begleitung dabei, mit dem Verlust leben zu lernen und vielleicht Gemeinschaft und schließlich auch Lebenslust wiederzuentdecken.
DOMRADIO.DE: Warum übernehmen wildfremde Menschen die Aufgabe von Freunden und Verwandten?
Roth: Ganz einfach: Wir sind eine reiche Gesellschaft, fast alles ist auf Effizienz getrimmt, bei vielen Handlungen steht die Gewinnorientierung an erste Stelle. Was ein bisschen auf der Strecke geblieben ist, scheint der Sinn zu sein, der zu einem erfüllten Leben dazu gehört. Sinn finden wir nicht in Macht und Geld. Sinn finden wir auch nicht in Ersatzhandlungen. Sinn finden wir in Gemeinschaft, Miteinander und Selbstlosigkeit. Einem Menschen in Not beizustehen, ist nicht nur ein Akt der Nächstenliebe, sondern auch in hohem Maße sinnstiftend.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.