Es fing an, als Jens Windel neun Jahre alt war: Als Messdiener in einer Gemeinde in Hildesheim musste er immer wieder ins Pfarrhaus, wo ihn der Priester quälte und vergewaltigte. Unzählige Male, zwei Jahre lang. Niemandem konnte er davon erzählen: "Ich habe versucht, das zu verstecken, auch die körperlichen Verletzungen, weil ich mich so geschämt habe. Ich habe die Schuld bei mir gesucht", erzählt der 48-Jährige heute.
Schon damals war bekannt: Der Pfarrer war bereits mehrfach versetzt worden, überall hinterließ er gebrochene Menschen. Doch niemand habe es so genau wissen wollen, sagt Windel. Er selbst verdrängte seine Erinnerungen. Erst 20 Jahre später fand er – gemeinsam mit seinem Therapeuten – Worte für das, was ihm widerfahren war: "Bis dahin waren es immer nur kurze Sequenzen, einzelne Bilder und bruchstückhafte Erinnerungen gewesen".
Mahner in Fulda
Heute ist Jens Windel Sprecher der Hildesheimer Betroffeneninitiative und Mitglied im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz. Auch in diesem Jahr ist er wieder nach Fulda gefahren und hat sich mit anderen Betroffenen einem Informationsstand und einem Plakat gegenüber vom Stadtschloss positioniert: Da, wo die deutschen Bischöfe zu ihrer Herbstversammlung tagen. Nur selten kommt einer von ihnen auf dem Weg zur Sitzung vorbei und redet mit ihnen. Auch der Trierer Bischof Stephan Ackermann hatte es eilig. Dabei würden Windel und die anderen Männer gerne noch einmal mit ihm über die Anerkennung des Leids sprechen.
Ackermann ist seit 2010 Beauftragter der Bischöfe für Fragen sexuellen Missbrauchs. Wenn er an diesem Mittwoch dieses Amt abgibt, fällt die Bilanz vieler Betroffener mager aus: "Ich finde nicht, dass er sich wirklich für unsere Belange eingesetzt hat", stellt Windel fest. Zwar würden in immer mehr Bistümern Studien zu Missbrauch und Vertuschung veröffentlicht, aber es laufe schleppend. Und auch Rücktritte von Bischöfen lassen auf sich warten: "Dass jemand, der nicht nur Fehler begangen hat sondern auch Verbrechen vertuscht hat, heute noch sein Amt ausüben kann, ist für mich ein schwaches Zeichen", sagt der Sprecher der Hildesheimer Betroffeneninitiative.
Der Wert des Leids
Hinzu kommt ein System der Anerkennung erlittenen Leids, das viele ratlos zurücklässt: Seit dem Jahr 2021 legt die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) die Höhe der Zahlungen für Betroffene fest. Bei Windel melden sich Menschen aus ganz Deutschland: "Für mich ist es unvorstellbar, wie jemand, der als Neunjähriger über viele Monate hinweg vergewaltigt wurde und heute infolge dessen berufsunfähig ist, eine Anerkennung des Leids in Höhe von 20.000 Euro bekommt." Windel beklagt die Intransparenz der Entscheidungen bei der UKA: "Wir bekommen keine Begründung. Das ist für Betroffene frustrierend, schockierend und retraumatisierend." Auch der Betroffenenbeirat im Bistum Würzburg hatte in der Vergangenheit kritisiert, dass mit den Personen nicht persönlich gesprochen werde. "Die Opfer sind Nummern in einem anonymisierten Verfahren, das klinisch rein und sachlich nüchtern Menschen mit einer finanziellen Summe abspeist", hieß es in einer Stellungnahme im März dieses Jahres.
Jens Windel bemüht sich darum in seinem eigenen Fall seit 2013. "Man hat gesagt, es gibt Summen zwischen 1.000 und 50.000 Euro. In besonders schweren Fällen auch darüber hinaus", erklärt er. Die UKA entschied allerdings: Sein Fall ist offenbar nicht besonders schwer. Obwohl er als Kind von einem Priester zig Mal missbraucht wurde. Obwohl er in seinem Beruf als Pfleger infolge der Traumata nicht mehr arbeiten konnte und zwei Jahre krankgeschrieben war. Obwohl er lange unter Depressionen litt und sogar an Suizid dachte. Eine Begründung für die Entscheidung gibt es auch hier nicht.
Bagatellisieren des Missbrauchs
Es gehe ihm und den anderen Betroffenen nicht darum, viel Geld zu bekommen, sagt Windel, sondern darum, dass die Summe in etwa das widerspiegele, was ihnen passiert sei. "Eine niedrige Summe bagatellisiert die Tat, in dem sie als 'nicht so schlimm' angerechnet wird", stellt er klar.
Die Zahlungen der UKA orientieren sich an Schmerzensgeldzahlungen staatlicher Gerichte in vergleichbaren Fällen. Da liegen sie aber eher im unteren Bereich: Das hatte erst vor wenigen Wochen die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus kritisiert. Bischof Ackermann hingegen hatte noch bei der Synodalversammlung Anfang September in Frankfurt gesagt, die Zahlungen bewegten sich am oberen Rand der als Referenz geltenden Schmerzensgeldtabelle.
Auch in anderen Fällen bewies Ackermann nicht immer eine glückliche Hand: Wie etwa zu Beginn des Jahres, als er den Klarnahmen einer Betroffenen öffentlich machte, die über sexuellen und geistlichen Missbrauch berichtet hatte. In seinem eigenen Bistum Trier liegt bis heute kein abschließendes Gutachten über den Umgang mit sexualisierter Gewalt vor.
Wer macht’s?
Ob Ackermanns Nachfolger, der möglichweise an diesem Mittwoch bei der Herbstvollversammlung in Fulda benannt wird, mehr bewegen wird? Große Hoffnung haben Jens Windel und die anderen Betroffenen nicht. Dass sich diese Aufgabe künftig zwei oder mehrere Bischöfe teilen oder eine Kommission eingesetzt wird, halten sie für wenig wünschenswert: "Dann werden Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben", vermutet Windel.
Der Täter von damals wurde für seine Taten nie belangt. Er wurde in den Ruhestand geschickt und bekam ein Zelebrationsverbot. "Ich weiß, dass sich nicht daran gehalten hat", erzählt Windel etwas resigniert: "Er stab im Jahr 2000. Bis dahin bekam er volle Bezüge und heute liegt er in Lippstadt-Eickelborn."
Es sind dicke Bretter, die die Betroffenen bohren müssen: Um sich Gehör zu verschaffen in einem System, wo man die ganze Sache am liebsten schon längst abgehakt hätte. Gegen Widerstände und Bürokratie. Ob er jemals daran gedacht hat, aufzuhören? Natürlich, antwortet Windel. "Aber ich kann es nicht, solange so mit uns umgegangen wird und ich immer wieder von Betroffenen erfahre, wie ungerecht das ganze System ist!"