DOMRADIO.DE: Das Netzwerk "aus unserer sicht" befindet sich noch im Entstehungsprozess. Es gibt einen Fragebogen auf der Internetseite Ihres Netzwerkes, den Betroffene nutzen können, um daran mitzuwirken. Was für Vorschläge kommen da rein?
Tamara Luding (Gründungsmitglied des Betroffenennetzwerkes "aus unserer sicht"): Der Aufruf ist an diesem Mittwoch erst gestartet. Wir hatten im Vorhinein eine ziemlich lange Konzeptionierungsphase. Unser Anliegen ist es vor allen Dingen Betroffene, die in Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben, im jetzigen Prozess schon einzubinden.
Sie sollen genau formulieren, welche Wünsche, Ideen oder auch Anforderungen und Forderungen sie an so ein Netzwerk eigentlich hätten. Wie das Netzwerk arbeiten soll. Welche Angebote es für Betroffene gibt, steht noch gar nicht fest.
Dafür brauchen wir jetzt schon die Betroffenen, die uns da zuarbeiten und uns ihre Ideen und auch die Erfahrungen, die sie bereits gemacht haben, mitgeben.
DOMRADIO.DE: Wie die Arbeit im Netzwerk in Zukunft dann tatsächlich aussehen soll ist noch im Entstehungsprozess mit inbegriffen?
Luding: Genau. Partizipation ist uns total wichtig und steht für uns an der obersten Stelle. Deswegen haben wir auch noch gar nicht vorgegeben, wie das Netzwerk inhaltlich arbeiten soll. Da möchten wir ansetzen und in der jetzigen Phase so viele Betroffene wie möglich einbinden, damit sie uns mitteilen in welcher Form sie arbeiten möchten.
Soll es einzelne Gruppen geben, soll analog oder in Online-Kongressen gearbeitet werden? Wie genau soll das aussehen, sich auch politisch Gehör zu verschaffen und gesellschaftlich sichtbar Gehör zu verschaffen? All das möchten wir wissen. Denn wir glauben, dass die Betroffenen-Community wahnsinnig viele Ideen hat. Wir müssen auch wie alle anderen das Rad nicht neu erfinden.
DOMRADIO.DE: "aus unserer sicht", der Name des Netzwerk schließt ein, dass sich Menschen, die selber Betroffene sexualisierter Gewalt sind, dort melden. Es geht also nicht darum, dass sich dort jeder einfach mit seiner Meinung zu dem Thema zu Wort meldet?
Luding: Nein. Das Netzwerk "aus unserer sicht" ist ein Netzwerk, dass ausschließlich von Betroffenen für Betroffene ist. Von und für Menschen, die in Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben. Neu ist an "aus unserer Sicht", dass es sich wirklich an Betroffene richtet, gleich wo und in welchem Kontext die Tat passiert ist.
Das hat auch damit zu tun, dass es schon Netzwerke von und für Betroffene im ganzen Bundesgebiet gibt. Häufig sind diese aber an Tatkontexte geknüpft. Also zum Beispiel an einen institutionellen Tatkontext, einen kirchlichen Tatkontext und so weiter.
Besonders schwierig ist es aber auch für Betroffene, die wie ich im familiären Kontext sexualisierte Gewalt in der Kindheit und Jugend erlebt haben. "aus unserer sicht" möchte alle einbinden und allen die Möglichkeit geben, sich miteinander und auch quer untereinander zu vernetzen und sich gegenseitig zu "empowern" (sich gegenseitig zu stärken, Anm. d. Red.).
DOMRADIO.DE: Das bedeutet auch, dass sie Wert darauf legen möchten, barrierefrei zu sein, damit sich auch Menschen mit Behinderungen einbringen können. Wieso war Ihnen das wichtig? Was wollen Sie damit deutlich machen?
Luding: Marginalisierte Gruppen, das heißt Menschen, die betroffen sind und eine Behinderung haben oder auch zum Beispiel alte und ältere Menschen und sehr junge Menschen sollen gezielt angesprochen werden.
"aus unserer sicht" richtet sich auch an Menschen ab 16 Jahren, die sind häufig in diesen Netzwerken nicht vertreten, weil sie sich nicht angesprochen fühlen oder weil die Strukturen es nicht zulassen, dass sie partizipieren könnten. Wir glauben aber dennoch, dass gerade diese Menschen besondere Bedarfe haben und möchten diese mit abdecken.
Die Homepage von "aus unserer sicht", die Fragebögen und auch die Austauschräume werden so gestaltet werden, dass wirklich alle Menschen daran teilhaben können. Selbst wenn es jetzt Gruppen sind, die wir vielleicht noch nicht abdecken.
Ein kurzer Hinweis an der Stelle: Alles, was wir jetzt aufgebaut haben, ist innerhalb von zweieinhalb Monaten entstanden. Das ging schon sehr schnell, von daher möchte ich an der Stelle so ein bisschen um Nachsicht bitten. Alle Hinweise zur Verbesserung sind für uns total wichtig, dann können wir an den Stellen noch nacharbeiten.
DOMRADIO.DE: Sie selber sind auch im bundesweiten Betroffenenrat vertreten. Wenn wir auf die Kirche in Deutschland blicken: Wo sehen Sie speziell im kirchlichen Aufarbeitungsprozess Schwachstellen?
Luding: Das ist jetzt ein großer Switch, weil aus unserer Sicht steht nicht das Thema Aufarbeitung an allererster Stelle, sondern es geht um Empowerment und um Vernetzung und darum Strukturen zu schaffen, damit sich Betroffene auch gegenseitig schützen und unterstützen können.
Dennoch sind für uns natürlich die Erfahrungen von der starken Betroffenenbewegung aus dem kirchlichen Kontext, vor allen Dingen aus dem katholischen Kontext, total wichtig. Dort sind natürlich wahnsinnige Erfahrungswerte vorhanden, was alles möglich ist und was es generell braucht.
Deswegen sind für uns die betroffenen Menschen, die sich bisher in den Aufarbeitungsprozessen der katholischen Kirche bewegt haben sehr wichtig. Die sind ebenfalls herzlich dazu eingeladen die Fragebögen auszufüllen und sich anzumelden für die Austauschräume. Da liegt einfach ein unwahrscheinlicher Erfahrungsschatz drin.
DOMRADIO.DE: Ihr Netzwerk ist in der Gründung keine Reaktion auf den Rückzug einiger Mitglieder des innerkirchlichen Betroffenenbeirates, aber dennoch hoffen Sie darauf, dass diese Menschen sich mit ihren Erfahrungswerten beteiligen?
Luding: Ja, und noch ein bisschen mehr. Der Kerngruppe von "aus unserer sicht" ist es total wichtig, noch mal hervorzuheben, dass wir keine Konkurrenzveranstaltung zu irgendwas sind. Wir schließen lediglich eine bestehende Lücke.
Es gibt bereits jetzt schon ganz viel Betroffenen-Vernetzung. Häufig auf lokaler Ebene, zum Beispiel in Form von Selbsthilfegruppen, aber auch von politisch aktiven Gruppen und von einzelnen Menschen, die sich zusammengeschlossen haben, weil sie zum Beispiel Online-Kongresse von und für Betroffene veranstalten.
Wir möchten sie einfach bündeln. Wir möchten denen einen Raum geben, damit sie alle zusammenkommen können. Auch im katholischen Kontext ist es ja so, dass viele Menschen nicht nur den Glauben an die Kirche, an die Institution oder an die Aufarbeitungsprozesse verloren haben, sondern es gibt auch Menschen, die von vornherein gar nicht mitmachen möchten und nicht gar nicht erst den Köpfer in dieses Haifischbecken machen möchten.
Diese Menschen brauchen aber trotzdem einen Raum, in dem sie sich treffen, vernetzen und sich gegenseitig stützen können. Und da möchten wir gerne ansetzen.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.