DOMRADIO.DE: Im Erzbistum Freiburg wurde an diesem Dienstag die diözesane Missbrauchsstudie vorgestellt. Sie spricht von über 250 Priestern als möglichen Tätern. Was gleicht sich zu den bereits veröffentlichten Studien? Und welche Erkenntnissen aus der Missbrauchsstudie des Erzbistums Freiburg sind neu?
Johannes Norpoth (Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz): In den grundsätzlichen Ergebnissen reiht sich auch die Freiburger Studie in die Reihe der bisherigen diözesanen Missbrauchsanalysen ein: Der Schutz von Tätern und Institution war die einzig leitende Handlungsmaxime für die Verantwortlichen in der Bistumsleitung. Aufklärung, Strafverfolgung und Fürsorge für die Opfer war kein Thema.
In einer ersten kursorischen Analyse der vorliegenden Studie wird aber auch eine Besonderheit deutlich: Anders als in anderen Bistümern, für die das Jahr 2010 einen Wendepunkt im Umgang mit Tätern und Opfern in Folge der Veröffentlichungen rund um das Berliner Canisiuskolleg darstellte, verharrte das Erzbistum Freiburg in den bekannten, fatalen Handlungsmustern. Es brauchte eine neue Bistumsleitung, um auch in Freiburg den Prozess der Selbstreflektion und Betroffenenorientierung in Gang zu bringen - das ist schon ein besonderes Ergebnis der Freiburger Studie, insbesondere bezüglich der hier in Rede stehenden Personen.
DOMRADIO.DE: Die vollständig fehlende Empathie der Erzbischöfe Oskar Saier und Robert Zollitsch gegenüber den Opfern, der Schutz der Täter. Wie erklären Sie sich diese Haltung in Bischöfen, die sich der Nachfolge Jesu verschrieben haben?
Norpoth: Setzt man das besondere Hirtenamt eines Bischofs in Relation zum Tun dieser beiden Herren, dann findet man keinen Erklärungsansatz, denn: Eine in der Nachfolge Jesu stehende Berufung kann schlicht nicht mit diesem jahrzehntelangen, menschenverachtenden Tun, dass unfassbares Leid bei den Betroffenen/Opfern/Überlebenden der Missbrauchstaten bis in das hier und jetzt verursacht hat, in Verbindung gebracht werden. Es braucht dazu einen zutiefst weltlich orientierten Denkansatz.
Dann zeigt sich sehr deutlich, wie unkontrollierbare, absolutistische Macht, wie die eines Bischofs, zu solch perversem Verhalten und Handeln führt: Da steht einzig und allein Machterhalt und Systemsicherung im Vordergrund, da zählt das vernichtete Leben eines Kindes keinen Cent, denn genau das steht dem Machterhalt entgegen.
DOMRADIO.DE: Robert Zollitsch war lange Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Dort haben ihm viele abgenommen, dass er sich für die Aufklärung von Missbrauch einsetzt. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz zwischen vermeintlichem Aufklärer und jahrelangem Vertuscher?
Norpoth: Nun ja: Wer Robert Zollitsch die Rolle als großer Aufklärer in seiner Zeit als Vorsitzender der DBK geglaubt hat, der wird heute eines besseren belehrt worden sein. Der muss feststellen, dass er dem von Zollitsch selbst erzählten Märchen als Kämpfer gegen Missbrauch und für Betroffene aufgesessen ist. Ich vermag keinerlei Erklärung über das Warum abzugeben - dafür ist die Differenz zwischen dem in der Öffentlichkeit selbsterklärten Anspruch und der nunmehr sichtbaren Wirklichkeit seines katastrophalen und desaströsen Handelns einfach zu groß.
Mit seinem selbstauferlegten Schweigen zum vorliegenden Bericht weicht er erneut einer Auseinandersetzung mit seinen Fehlern aus. Bis heute und weiterhin entzieht er sich der direkten Auseinandersetzung mit den Opfern und Betroffenen. Ich teile in diesem Zusammenhang explizit die Position von Julia Sander, Sprecherin des Betroffenenbeirats Freiburg, dass Robert Zollitsch in seinen Leitungspositionen im Erzbistum Freiburg mehr Kinderleid verursacht und mehr Biographien nachhaltig negativ geprägt hat, als es ein einzelner Täter je geschafft habe.
Und darüber hinaus hat er auch der Organisation, die er doch so sehr verteidigen wollte, erheblichen Schaden zugefügt. Der durch ihn erzeugte Vertrauensverlust dürfte nicht nur bei Gläubigen deutlich spürbar sein.
DOMRADIO.DE: Welche Schlüsse ziehen Sie als Vertreter der Betroffenen aus dieser neuerlichen Missbrauchsstudie?
Norpoth: Auch die Freiburger Missbrauchsstudie zeigt, neben dem nahezu perversen Leitungshandeln und einer kaum zu beschreibenden Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung des ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, die komplette Bandbreite des systemischen Fundaments von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche.
Für das Freiburger Bistum bedeutet dies, die jetzt vorliegenden Ergebnisse so für die weiteren Aufarbeitungs- und Veränderungsprozesse zu nutzen, dass sexualisierte Gewalt und deren Vertuschung aktiv entgegengewirkt wird. Sie müssen aber auch einer Prüfung im strafrechtlichen Sinne unterzogen werden: Dort, wo Strafverfolgung heute noch möglich ist, gleich ob gegenüber Tätern oder Vertuschern, müssen Bistumsleitung und -verwaltung konsequent handeln und die Strafverfolgungsbehörden einschalten. Erzbischof Burger hat ja bereits im Rahmen der Studienvorstellung eine solche Prüfung angekündigt.
DOMRADIO.DE: Was muss nun geschehen, um weitere Taten aufzuklären, um weiteren Missbrauch zu verhindern und auch den Machtmissbrauch in der Kirche zu verhindern?
Norpoth: Es braucht ein konsequentes Angehen der nunmehr ja schon in einer Vielzahl von diözesanen Studien herausgearbeiteten systemischen Ursachen. Man kann über die bisherigen Ergebnisse des Synodalen Wegs sicherlich streiten. Veränderungen und Weiterentwicklungen in einer derart auf Traditionen fixierten Organisation bedeuten immer auch einen langen, schwierigen und steinigen Weg. Aber das es konsequent Maßnahmen gegen die systemischen Ursachen geben muss, daran führt kein Weg vorbei. Weder mit noch so hoher Autorität ausgestattete römische Brief, noch so lautes Getöse konservativer Denkkreise werden daran etwas ändern können. Wahrheit bleibt nun einmal Wahrheit!
Mit Blick auf die notwendige Aufarbeitung aller Missbrauchstaten sowie der Vertuschung von Verantwortlichen braucht es ein individuelles Recht auf Aufarbeitung, ebenso ein individuelles Recht auf Akteneinsicht, dass nicht an den Türen welcher Geheimarchive auch immer endet und staatlich definierte Anforderungen und Bedingungen für die institutionelle Aufarbeitung, die bei Nichteinhaltung empfindliche Restriktionen auslösen.
Darüber hinaus, und an dieser Stelle unterstütze ich ausdrücklich die Forderung des Freiburger Betroffenenbeirats, zeigt die heute vorgelegte Studie, dass auch überdiözesane kirchliche Strukturen in die Aufarbeitung einbezogen werden müssen. Insbesondere die Rolle der Deutschen Bischofskonferenz und der römischen Glaubenskongregation im Kontext der Missbrauchsfälle in deutschen Bistümern muss in naher Zukunft intensiv betrachtet und analysiert werden.
Das Interview führte Christian Schlegel.