DOMRADIO.DE: Sie stammen selbst aus dem Bistum Essen. Kardinal Hengsbach war dort außerordentlich beliebt. Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert, dass er eventuell selbst Missbrauchstäter gewesen sein soll?
Johannes Norpoth (Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz): Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Natürlich ist jetzt mit Franz Kardinal Hengsbach jemand in den Fokus gerückt, der besondere für das Ruhrgebiet insgesamt und nicht nur für das Bistum fast den Status einer Ikone hat.
Das politische Ruhrgebiet wird das, glaube ich, sehr bestürzt aufnehmen.
Als jemand, der seit Jahren in der Betroffenen-Arbeit in der katholischen Kirche engagiert ist, verwundert es mich hingegen nicht, dass es nunmehr auch ein Altbischof ist, der mit direkten Tat-Vorwürfen konfrontiert ist. Aber im Kontext der Bedeutung, die Franz Hengsbach für das Ruhrgebiet hatte, ist das sicher besonders und besonders sensibel.
DOMRADIO.DE: Er ist bereits 1991 verstorben. Sie kennen viele Fälle, die erst spät bekannt wurden. Wie sicher kann man denn aus Ihrer Erfahrung die Täterschaft von jemanden ermitteln, der schon seit mehr als 30 Jahren verstorben ist?
Norpoth: Ich bin weder Kriminologe noch Strafrechtler. Das ist immer eine besondere Situation. Wenn aber ein Betroffener oder eine Betroffene einen Menschen beschuldigt, der in einer solch außergewöhnlichen, auch öffentlichen Wahrnehmung steht, habe ich grundsätzlich erstmal kein Zweifel daran, dass an den Vorwürfen tatsächlich was Wahres dran ist, wenn man das so sagen kann, dass also die Vorwürfe berechtigt sind und auch auf Dauer Plausibilität hervorbringen.
Kein Mensch, insbesondere nicht dann, wenn man auch in einem solchen Lebensalter sein muss, wie die Opfer das jetzt sein müssen, setzt sich freiwillig an dieser Stelle einem solchen Martyrium aus. Das ist eine grundsätzliche Bewertung. Sie erheben solche Vorwürfe nicht ohne Grund.
Und sie setzen sich nicht den damit verbundenen Anfeindungen aus, wenn Ihr Vorwurf weder Hand noch Fuß hat. Insofern sind aus meiner Sicht die Vorwürfe, die da aufgeworfen worden sind, sicherlich plausibel.
Inwiefern man am Ende zu einer strafrechtlich juristisch sauberen Abarbeitung des Vorgangs kommen wird, ist eine völlig andere Frage. Hier ist entscheidend, wie die Aktenlage ist und wie die Juristen zu einer endgültigen Bewertung kommen.
DOMRADIO.DE: Für Menschen, die keine Missbrauchsbetroffenen sind und die deren innere Kämpfe nicht kennen, könnte jetzt die Frage kommen, warum die Opfer nicht früher etwas gesagt oder vehementer auf das erlittene Unrecht hingewiesen haben?
Norpoth: Als Betroffener leben Sie grundsätzlich mit unterschiedlichen Situationen. Lange hatten die Betroffenen keinerlei Lobby im Kontext der kirchlichen Öffentlichkeit. Selbst in den letzten Jahren sind ja sogar Familien in Pfarrgemeinden angegangen worden, obwohl sie für Opfer gesprochen haben.
Wir reden da nicht von der Zeit in den 1980er und 90er Jahren, sondern wir reden in der Zeit nach 2015. Insofern braucht es ein gesellschaftliches Klima, in dem ihre Vorwürfe auch sensibel wahrgenommen werden.
Der zweite Punkt ist: Wenn man sich einen Vorgang aus dem Erzbistum Paderborn zu Hengsbach anguckt, dann sind im Jahr 2011 die untersuchenden kirchlichen Institutionen - zum einen in Paderborn und zum anderen die Glaubenskongregation in Rom - zur Überzeugung gekommen, dass wir es hier mit einem nicht plausiblen Vorwurf gegen ihn zu tun haben. Leider Gottes kommt man zwölf Jahre später zu einer deutlich anderen Auffassung und Wahrnehmung.
Da muss man sich schon noch mal die Frage stellen, was die Untersuchungsführer 2011 zu genau der damaligen Entscheidung geführt hat. Und wenn Sie auf einmal aus welchem Grund und Kontexten auch immer mitbekommen, dass in anderen Fällen eine solche Plausibilität abgelehnt worden ist und Ihnen als Opfer mitgeteilt wird, dass man die Unwahrheit sagt, um es nicht umgangssprachlich als Lüge zu bezeichnen, dann ziehen sich andere Opfer und Betroffene natürlich immer mehr zurück, weil sie einfach Sorge haben, dass ihnen nicht geglaubt wird.
Das ist leider ein sehr unsäglicher Kreislauf, der mindestens in den Jahrzehnten vor der MHG-Studie (erschien 2018 und schaute auf die systemischen Ursachen von Missbrauch in der Katholischen Kirche, Anm. d. Red.) auch sicherlich Teil der Abwehrstrategie der katholischen Kirche war.
DOMRADIO.DE: Das Bistum Essen hat sich nun entschieden, die Vorwürfe öffentlich zu machen und hat weitere mögliche Betroffene darum gebeten, sich zu melden. Dann ist dieser Schritt, in die Öffentlichkeit zu gehen, für Sie zwangsläufig, oder?
Norpoth: Ja, klar. Bischof Overbeck und das Bistum Essen haben den richtigen Schritt getan, um Transparenz reinzubringen. Wie gesagt, bei Hengsbach handelt es sich um eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens im Ruhrgebiet, nicht nur auf die Situation als Ruhrbischof und Gründungsbischof bezogen, auch die Fragen des Strukturwandels haben Franz Hengsbach in seiner Amtszeit bewegt.
Ein Stichwort ist der Initiativkreis "Ruhrgebiet". Das war eine wesentliche wirtschaftliche Initiative für das Ruhrgebiet, bei dem sich alle Wirtschaftsgrößen des Ruhrgebietes um den Bischofssitz versammelt hatten. Da gehört an dieser Stelle auch heute noch Mut dazu zu sagen: Nein, diese Vorwürfe sind so eklatant, sie sind so nachhaltig, hier muss an dieser Stelle Öffentlichkeit geschaffen werden.
Insofern haben Bischof Overbeck und das Bistum Essen hier den richtigen Schritt getan. Was jetzt folgen muss, sind weitergehende Untersuchungen und natürlich die Frage, ob sich weitere Betroffene mit dem Vorwurf melden, dass Bischof Hengsbach in ihren persönlichen Fällen auch Täter ist.
DOMRADIO.DE: Kardinal Hengsbach war eine Persönlichkeit. Was bedeutet das nun für das Selbstverständnis des Bistums?
Norpoth: Das wird spannend zu beobachten sein, denn unter Hengsbach ist dieser Begriff des Ruhr-Bischofs und auch des Sozial-Bischofs, des Sozial-Bistums geprägt worden. Diese Seite der Persönlichkeit von Franz Hengsbach bleibt natürlich bestehen. Er hat viel Gutes für die Kirche im Bistum, für die Menschen im Bistum bewirkt. All diese Dinge bleiben natürlich bestehen, haben mit seinem Wirken zu tun.
Aber all diese guten Dinge können die hässliche Fratze des Missbrauchs, die er als Täter aufgesetzt und gezeigt hat, nicht übertünchen. Das ist Teil seiner Vita, Teil seiner Persönlichkeit.
Auch das gehört in die Bewertung einer solchen historischen Persönlichkeit, einer Persönlichkeit der Öffentlichkeit. Das wird in die Wahrnehmung und in die Bewertung der Lebensleistung dieses Menschen mit einzubeziehen sein.
DOMRADIO.DE: Die Kirche kämpft schon lange mit der Aufklärung des Missbrauchs. Glauben Sie, dass die Veröffentlichung in der Causa Hengsbach einen weiteren Schritt bedeutet, dass die Kirche auch vor berühmten Persönlichkeiten nicht mehr die Augen verschließt?
Norpoth: Franz Hengsbach reiht sich jetzt in eine Situation ein, in der mindestens in diesem Jahr mit Kardinal Lehmann (ehemals Bischof von Mainz, Anm. d. Red.) und Erzbischof Zollitsch (ehemals Erzbischof von Freiburg, Anm. d. Red.) zwei namhafte Kirchenfürsten vom Sockel ihres eigenen Denkmals gestoßen worden sind. Das passiert jetzt mit Franz Hengsbach natürlich auch.
Man muss ehrlicherweise sagen, dass die Aufklärung von Sexualstraftaten vor einer noch zu großen Lebensleistung welcher Persönlichkeit auch immer, nicht stoppen und nicht Halt machen darf. Darauf hat jedes Opfer ein unmittelbares, individuelles Recht. Die Menschen sind in unterschiedlichster Intensität und Qualität für ihr Leben gezeichnet. Das Vergessen bei ihnen setzt nicht ein. Das muss man schlicht und offen sagen.
Als Opfer sexualisierter Gewalt schaffen Sie es, Dinge zu verdrängen, auch über viele Jahre zu verdrängen. Aber Sie schaffen es nicht zu vergessen. Irgendwann explodiert dieser innere Vulkan in Ihnen und irgendwann holt jeden die eigene Geschichte mal wieder ein.
Das passiert mir auch. Da stehe ich morgens mit der Tat auf und gehe abends mit der Tat ins Bett. So sprachfähig ich auch bin, aber das begleitet mich mein Leben lang. Und zwar so lange, wie ich leben werde, obwohl meine Tat, die mich getroffen hat, mittlerweile über vier Jahrzehnte zurückliegt.
Insofern darf die gesellschaftliche Reputation eines Täters in der Bewertung genau dieser Seite der jeweiligen individuellen Persönlichkeit keinerlei Rolle spielen.
Das Besonders hier ist aber, dass sich Bischof Hengsbach nicht in die Reihe der Vertuscher stellt. Er geht nicht in die Reihe derjenigen, die die Täter geschützt haben. Leider reiht er sich in die Täterschaft mit ein, so wie es jetzt aussieht.
Das ist sicherlich eine neue Qualität. Das wird hoffentlich im Kreise der Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz zu einer sensibleren Diskussion in der Frage des Umgangs mit der Missbrauchskrise, des Umgangs mit den Folgen und des Umgangs mit der Frage von Aufarbeitung und Transparenz führen.
Bei der Herbstvollversammlung haben die Bischöfe dazu bereits nächste Woche die Möglichkeit - vielleicht auch unter dem Einfluss und Eindruck der aktuellen Meldung zu Bischof Hengsbach.
Das Interview führte Mathias Peter.