DOMRADIO.DE: Sie stammen väterlicherseits aus einer nigerianischen Familie und wuchsen in Essen im Ruhrgebiet auf. In Ihrer Gymnasialzeit in den 60er Jahren haben Sie Erfahrung mit Diskriminierung gemacht. Wie äußerte sich das?
Austen Peter Brandt (Theologe, evangelischer Pfarrer und Gründer des Vereins "Phoenix e.V. Für eine Kultur der Verständigung"): Ich würde sogar noch einige Jahre zurückgehen. Diskriminierung hat mich vom ersten Tag meines Lebens in der Bundesrepublik Deutschland begleitet. Ein Beispiel, meine Eltern hatten sich getrennt nach meiner Geburt und als meine Mutter mit mir nach Essen kam, sagte eine Großtante zu mir, ob ich mit einem Affen schlafe oder mit einem "N", das ist das gleiche.
Diese Minderbewertung hat mich Tag für Tag begleitet, dass du als Kind mit einer dunkleren Hautfarbe weniger als Mensch angesehen wurdest, in der Nachbarschaft, überall. Das hat sich natürlich später auch in der Schule niedergeschlagen, weil es Lehrer gab, die nicht wollten, dass ein Mensch wie ich ein deutsches Abitur machte. Sie haben sich sehr stark bemüht, mich von der Schule zu bekommen. Die gute Seite ist, es gab auch Lehrer, die sehr stark für mich gekämpft haben, die auf meiner Seite waren. Dadurch hat es mit dem Abitur geklappt.
DOMRADIO.DE: Dann haben Sie Theologie studiert. Wie ist dieser Wunsch zustande gekommen? Hängt das mit diesen Erfahrungen zusammen?
Brandt: Tiefenpsychologisch möglicherweise. Ich wollte schon als fünfjähriges Kind Pfarrer werden. Schon immer wollte ich Pfarrer werden. Interessanterweise ist mein Großvater aus Nigeria einer der ersten anglikanischen Pfarrer in Nigeria, was ich erst viel später erfahren habe. Es mögen familiäre Bindungen sein, es mag die eigene Entscheidung sein, aber es war immer klar, dass ich Pfarrer werde.
DOMRADIO.DE: Dann waren Sie in den 90er Jahren Pfarrer in Duisburg. Wie war es da mit dem Rassismus?
Brandt: Ich war 38 Jahre lang Vikar, Hilfsprediger, Pfarrer in einer evangelischen Kirchengemeinde im Duisburger Norden. Parallel dazu kam mit mir ein kongolesischer Pfarrer, der eine dunklere Hautfarbe hat als ich. Es war für die Gemeinde sicherlich am Anfang sehr ungewohnt. In dem ersten Weihnachtsgottesdienst, den wir gemeinsam feierten, verließen auch einige Menschen die Kirche. Es gab ein Ehepaar, das seine goldene Hochzeit beging, das wollte nicht, dass mein Kollege den Gottesdienst feiert. Nach einem Gespräch mit einem anderen Kollegen stimmten sie zu und waren im Nachhinein begeistert von der Goldhochzeit.
Es gab in der Gemeinde eine sehr tiefe Solidarität von Kollegen und Presbyterium. Die Solidarität hat sich sicherlich durchgesetzt. Es gibt natürlich verschiedene Dimensionen des Rassismus.
Ich erinnere mich zum Beispiel, es muss 1982 auf einem katholischen Pfarrfest gewesen sein, da gab es diese "N"-Kopf-Wurfmaschinen. Als ich sagte, dass "N" auch ein rassistischer Ausdruck ist, begegnete mir eine große Empörung: Das ist doch normal, das muss man doch sagen dürfen. Es gibt also verschiedene Ebenen des Rassismus. Die äußerste Ebene ist der gewalttätige Rassismus, aber Rassismus fängt schon viel früher an.
DOMRADIO.DE: Nicht selten ist es so, dass Priester aus dem Ausland eine etwas konservativere theologische Ansicht haben und dass dann gesagt wird, das liegt an ihrer Kultur oder daran, dass sie aus diesem Land kommen. Ist das auch schon eine Form von Rassismus. Wo beginnt Rassismus für Sie?
Brandt: Auf alle Fälle auf der Ebene einer nicht reflektierten Überheblichkeit. Was ich von vielen Pfarrern der Weltkirche erlebe oder in Diskussionen zum Beispiel in Nigeria, dass dort gesagt wird, erst hat uns die Kirche eine ganz bestimmte Moral beigebracht, uns von unseren traditionellen Moralen getrennt, die öfters viel offener waren. Jetzt bekommen sie im Westen eine neue Idee und wir müssen wieder nachziehen. Das ist Neukolonialismus. Dagegen wehren wir uns. Das macht die Sache so schwer. Es geht nicht nur um Sexualmoral. Es geht um Politik, es geht um Kirchengeschichte. Es geht um Mission.
DOMRADIO.DE: Sie engagieren sich stark gegen Rassismus, veranstalten entsprechende Trainings und haben auch einen Verein gegründet. An wen richten sich diese Anti-Rassismus-Trainings? Mehr an Opfer oder mehr an Leute, die rassistisch agieren.
Brandt: Der Verein wurde 1993 gegründet. Wir haben jetzt etwa 850 Mitglieder. Es ist eine faszinierende Frage, die Sie stellen. Wer ist Opfer von Rassismus? Das bedeutet ja, dass wir zum Beispiel in der gleichen Stadt wohnen und ich Rassismus mitkriege und sie nicht. Das ist eigentlich systemisch unlogisch.
Was wir sagen können ist, dass mir Rassismus bewusst wird, weil ich ein sehr offensichtliches Ziel davon bin. Weiße werden in einer Art und Weise sozialisiert, in eine Überlegenheit hinein, die sie aber erst mal nicht reflektieren.
Der zweite Punkt ist, welche Last tragen weiße Menschen, die in einer transgenerationalen Geschichte des Rassismus stehen. Welche Geschichte hat Ihre Eltern, Ihre Großeltern, Ihre Urgroßeltern? So neigen wir in Phoenix dazu zu sagen, wir alle sind von Rassismus betroffen. Unsere Fähigkeit ist es einen Zugang zu unserer Betroffenheit zu bekommen.
DOMRADIO.DE: Betroffene aktiv wie passiv bei Rassismus?
Brandt: Betroffenheit in verschiedener Art und Weise. Ich denke seit meinem fünften Lebensjahr täglich darüber nach, wie ich mit Rassismus, den ich erfahre, umgehen kann, ohne, dass er mich zerstört. Vielleicht ist es eine Chance, dass auch weiße Menschen sich fragen, wie sie von Rassismus geprägt sind. Das geht bis in das Innerste der Persönlichkeit hinein.
Das ist nicht einfach. Darum machen wir auch Trainings, in dem wir immer sehr behutsam Menschen begleiten und sehr liebevoll Menschen die Chance geben, zu entdecken, wie sie sozialisiert worden sind, bevor sie entscheiden konnten, wie ihre Synapsen im Gehirn sich entwickeln.
DOMRADIO.DE: Nehmen wir als Beispiel den aktuellen Fall des Priesters aus dem Kongo, der am Niederrhein Pfarrer ist und rassistisch als Affe beleidigt worden ist. Was empfehlen Sie diesen Priestern, wie Sie damit umgehen sollen?
Brandt: Wer bin ich zu raten? Ich finde diese vielfältige Solidarität der Kirche erst mal sehr gut, von Bischof Genn, von anderen Menschen. Das ist etwas sehr Wichtiges, dass dieser Priester Halt findet in seiner Kirche. Dann finde ich es wichtig, dass der Priester auch mit POC (People of Colour) zusammenkommt, nicht nur aus dem kirchlichen Bereich, sondern grundsätzlich mit Menschen, die ähnliche Erfahrung machen.
Dann kann am ehesten ein Stück weit auch innere Heilung geschehen. Heilung kann eher durch Menschen geschehen, die diese Erfahrung selber gemacht haben. Schwierig finde ich es, dass solche rassistischen Vorfälle bis heute nicht immer konsequent gerichtlich behandelt werden. Ich glaube da muss sich unsere Rechtsprechung noch ändern.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.