Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA): Herr Bischof, Nigeria hat viele Krisen - die Terrorgruppe Boko Haram im Nordosten, der Konflikt zwischen Farmern und Viehhirten in Zentralnigeria oder die Frage nach Migration und Menschenhandel. Die Lage scheint schlimmer denn je.
Kukah: Diese Beobachtung teile ich. Ein Grund ist das Versagen des Staates. Sobald die Verantwortlichen keine klare Linie haben, werden andere versuchen, das zu übernehmen. Ganze Dörfer fühlen sich schutzlos. Menschen wissen nicht, wie sie überleben sollen. Überall sehen wir, wie schwach das Zentrum dieses Landes ist.
KNA: Haben Sie den Eindruck, dass es wenige Monate vor den Wahlen im Februar 2019 noch Politiker gibt, die das ändern wollen und können?
Kukah: Es ist traurig. Aber was auch immer Politiker versuchen, es ist nicht nachhaltig. Wenn man vor einer großen Prüfung steht, reicht es nicht, ein paar Dinge auswendig zu lernen. Damit kommt niemand durchs Leben. Im Moment treffen Politiker Entscheidungen, um Wahlen zu gewinnen.
Das kann aber zu noch größeren Problemen führen, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen können und ihre Entscheidungen nicht durchdacht sind.
KNA: Nigeria steht längst im Wahlkampf, es geht um viele Millionen Wählerstimmen. Immer wieder werden Gewaltausbrüche befürchtet. Wie beeinflusst das die Stimmung im Land?
Kukah: Normale Nigerianer wollen einfach nur in Frieden leben. Viele sind aber verzweifelt und wünschen sich etwas Neues. Wenn diese Regierung an der Macht bleiben will, muss sie klar machen, in welche Richtung sich das Land entwickeln will. Gelingt das nicht, wird es zu einem Zusammenprall von Ideen, Politikern und politischen Akteuren kommen.
Das wird vielen Menschen Schaden hinzufügen. Es hängt also vom Verhalten der Politiker ab. Sie sind zu einem großen Teil für die Gewalt in unserem Land verantwortlich.
KNA: Fast zwei Drittel der rund 190 Millionen Einwohner sind jünger als 25 Jahre. Viele Politiker - auch Präsident Muhammadu Buhari - könnten ihre Eltern oder Großeltern sein. Hat die Jugend eine Zukunft in diesem Land?
Kukah: Aber natürlich. Allerdings schaffen wir nicht die passenden Rahmenbedingungen. Viele junge Menschen wollen unbedingt in die Politik gehen und an der Macht festhalten. Dafür hätten sie nicht zur Schule gehen müssen. Dabei haben wir so viele talentierte und flexible Jugendliche. Viele sind sehr erfolgreich in der Musik, im Kommunikationsbereich oder als Schriftsteller.
Es geht nicht nur darum, wie viele Minister oder Gouverneure sind. Ohnehin bleibt die Tür in die Politik den allermeisten verschlossen. Ohne finanzielle Mittel ist man chancenlos. Leider sucht dieses Land nicht die guten Menschen, sondern diejenigen, die anderen die Knochen brechen können und viel Chaos anrichten, um an die Spitze zu kommen.
KNA: Dass Nigeria ein so junges Land ist, liegt vor allem an der hohen Geburtenrate. Die Bevölkerung wächst jährlich um vier bis zehn Millionen Menschen, nicht aber die Infrastruktur. Wie wichtig ist Familienplanung?
Kukah: Wir müssen in die wachsende Bevölkerung investieren. Nigeria darf sich aber nicht der Einstellung hingeben, dass diese Bevölkerung eine Gefahr ist. Eine Gefahr ist die Gier von wenigen. Es gibt genügend Nahrungsmittel und Fläche, um dieses Land zu versorgen.
Überbevölkerung ist eine westliche Denkweise. Für uns Afrikaner ist Familienplanung eine ernste Angelegenheit, die es immer gab. Sobald sich Lebensumstände verbessern, wird sich auch die Art der Familienplanung ändern. Aber solange die Ressourcen nicht gerecht verteilt werden, werden Familien viele Kinder haben. Wenn sie hoffen, dass drei überleben, müssen sie zehn auf die Welt bringen.
KNA: Wie empfinden sie die Forderung des Westens nach Familienplanung?
Kukah: Der Westen soll uns bitte unsere Probleme selbst regeln lassen. Aus religiöser, kultureller und moralischer Sicht sehen wir unsere Bevölkerung nicht als Problem an. Der Westen hat genug von unseren Ressourcen gestohlen. Das ist schmerzhaft. Kein Multimillionär in Europa oder den USA hat die moralische Autorität, um uns zu sagen, wie viele Kinder wir haben sollen.
Das Beste, was sie tun können, ist, dass sie die Hand aus unseren Taschen nehmen, damit wir mit unseren Problemen selbst fertig werden.
KNA: Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft am Freitag Präsident Muhammadu Buhari in Abuja. Was sind Ihre Erwartungen?
Kukah: Als sie das letzte Mal in Nigeria war, gehörte ich zu den glücklichen fünf Personen, die sie getroffen haben. Damals war Goodluck Jonathan Präsident. Ich sagte ihr: Wenn Sie dem Präsidenten erklären können, wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut wurde, wäre das ein großer Beitrag. Jetzt müsste deutlich gemacht werden, dass der Westen wissen will, wie Nigeria regiert wird.
Wichtig ist auch, etwas gegen den illegalen Waffenhandel zu unternehmen. Man kann uns nicht Instabilität vorwerfen, wenn westliche Länder Waffen verkaufen und genau wissen, wohin sie gehen.
Außerdem sollte Merkel eins verstehen: Wir können unser Land nur aufbauen, wenn die illegal angeeigneten Güter zurückkommen oder ersetzt werden. Das Ausland muss aufhören, gemeinsam mit nigerianischen Geschäftsleuten Ressourcen zu stehlen. Wer das als westlicher Staatschef nicht unterbindet, kann sich nicht als Freund Nigerias bezeichnen.