DOMRADIO.DE: Sie werfen dem Bistum schwerwiegende Pflichtverletzungen in Fällen sexualisierter Gewalt bis über das Jahr 2000 hinaus vor. Zu welcher Erkenntnis sind Sie da bisher gekommen?
Prof. Hans Schulte-Nölke (Rechtswissenschaftler an der Universität Osnabrück und Leiter der Studie): Vielleicht vorab: Wir werfen dem Bistum gar nichts vor. Das ist gar nicht unsere Aufgabe. Wir haben einfach nur aufgeschrieben, welche Informationen das Bistum hatte und welche Maßnahmen ergriffen worden sind. Wir haben dann untersucht, ob es sich dabei unserer fachlichen Einschätzung nach um Pflichtverletzungen handelt. Vorwürfe sind nicht unsere Aufgabe.
Aber die Antwort auf Ihre Frage: Es gibt zwei ganz unterschiedliche Arten von Pflichten. Das eine sind Pflichten zu Maßnahmen gegen gefährliche Priester. Da hat es bis über das Jahr 2000 hinaus schwerwiegende Verletzungen gegeben. Priester, die erkennbar gefährlich waren, wurden nicht aus dem Amt oder aus dem Dienst genommen und damit waren weitere Kinder betroffen. In den letzten Jahren finden sich solche Verstöße kaum mehr. Die Kirche handelt, das Bistum Osnabrück handelt. Bischof Bode handelt schnell und nimmt die Priester aus dem Amt. Das ist die eine Pflicht und da gibt es also eine Entwicklung.
Die andere Pflicht - und das ist in gewisser Weise neu in unserer Studie - ist die Pflicht, Betroffenen zu helfen. Also, wenn Betroffene sich melden, dann das Richtige zu tun und vielleicht auch Betroffene einzuladen, sich zu melden, um ihnen helfen zu können. Diese Pflichtengruppe ist auch über viele Jahrzehnte schwer verletzt worden. Und da ist die lernende Entwicklung des Bistums sehr viel langsamer. Wir finden also bis an die jüngste Vergangenheit immer noch Verletzungen. Erst seitdem Laien ehrenamtlich - das ist eine Besonderheit im Bistum Osnabrück - den Bischof beraten und der auch immer - so scheint es jedenfalls von außen - sich an die Empfehlungen hält, hat sich das verbessert. Aber das ist noch lange nicht in einem Bereich, wo man sagt, dass das Bistum hier seine Pflichten gegenüber den Betroffenen erfüllt.
DOMRADIO.DE: In anderen Diözesen wird ja zu wenig Transparenz angeprangert und kritisiert, dass Betroffene außen vorgelassen werden. Bei Ihnen wurde eine Steuerungsgruppe eingerichtet. Und das Besondere: Drei der sieben Mitglieder sind Betroffene von sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht mit dieser Zusammenarbeit?
Schulte-Nölke: Wir hatten das Privileg, dass wir die Studie selbst konzipieren konnten. Das heißt, wir mussten nicht eine Aufgabe, die man uns gegeben hat, abarbeiten, sondern wir waren in eine für Wissenschaftler gute Position gebracht, vorher genau zu überlegen, was wir machen wollen. Und wir haben uns überlegt, die Rechte der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen. Und spätestens da war klar, dass es gut wäre, wenn Betroffene uns helfen. Und zwar nicht Betroffene aus dem Bistum Osnabrück. Wir haben ganz, ganz großartige Menschen gefunden, die es sich zur Aufgabe machen, bei solchen Projekten zu helfen. Die haben uns geradezu die Augen über die Situation von Betroffenen geöffnet. Betroffene sind nicht nur Opfer, da ist nicht nur Leid. Das sind großartige, mutige Menschen, mit denen wir da sprechen. Sie haben uns sehr geholfen, schärfer zu sehen, was deren Interessen und Rechte sind. Dadurch konnten wir auch diesen Teil der Studie - die Pflichtverletzungen sind ja dort in der letzten Zeit viel gravierender - stärker machen.
DOMRADIO.DE: Es ist nun ein Zwischenergebnis. Den Abschlussbericht wird es nach drei Jahren geben. Was ist von diesen weiteren zwei Jahren zu erwarten?
Schulte-Nölke: Wir haben ja nur 16 Fälle ausgearbeitet, allerdings diese sehr, sehr gründlich. Es gibt aber noch etliche Dutzend mehr. Wir werden die anderen auch in den Blick nehmen und versuchen das gesamte quantitative Ausmaß aufzuhellen. Wir wollen ganz viel wissen über die Rolle derjenigen Personen, die etwas wissen, aber nichts oder nicht genug tun. Die gibt es offenbar in sehr großer Zahl, in Familien, in Gemeinden, im lokalen Klerus. Wir wollen viel besser verstehen, was eigentlich die Bedingungen für sexualisierte Gewalt in dem besonderen Bereich kirchlicher Raum sind. Wir wollen natürlich auch damit dazu beitragen, dass die Betroffenen gehört und anerkannt werden. Und natürlich sind wir auch sicher, dass das Bistum und die Gemeinden daraus noch weitergehende Schlüsse ziehen als bisher.
DOMRADIO.DE: Die Studie hat aber auch konkrete Namen genannt, vor allem die Bischöfe Wittler und Averkamp, aber auch Bischof Bode. Worin liegt hier konkret das Versagen?
Schulte-Nölke: Da sind wir im Grunde wieder bei diesen beiden verschiedenen Pflichtenarten. Die Bischöfe Wittler und Averkamp haben auf das Schwerste gegen die Pflicht der Ergreifung von Maßnahmen gegen gefährliche Priester verstoßen. Bei Bischof Bode finden wir in den ersten Jahren seiner Amtszeit auch solche Verstöße. Sie sind nicht so schwerwiegend, sie sind nicht so grob unsorgfältig fahrlässig. Aber es gibt auch durchaus gewichtige Verstöße. Wie gesagt, die Lernkurve hat das gesamte Bistum mitgemacht und auch den Bischof erreicht. Die andere Art der Pflichtverstöße, also sich gegenüber den Betroffenen sich unangemessen zu verhalten oder auch deren berechtigte Ansprüche nur minimalistisch zu erfüllen, hat Bischof Bode größtenteils gar nicht selber gemacht. Der Bischof geht offen auf die Betroffenen zu und spricht mit ihnen.
Es geht aber ja um die gesamte Bistumsverwaltung und da liegt natürlich die große Pflichtverletzung in einem Führungsversagen. Es fehlt eine Führung, die die Mitarbeiter vom diesem Verhalten abhält. Es fehlt möglicherweise auch der Austausch von Mitarbeitern, die schon alleine nicht imstande sind, einen Brief zu schreiben, der der besonderen Situation angemessen ist.
Das Interview führte Julia Reck.