DOMRADIO.DE: Welche Erfahrung machen Sie denn in der Praxis? Gibt es da wirklich so viele Jobverweigerer, wie sie von Jens Spahn und anderen ausgemacht werden?
Dr. Hans Günther Ullrich (Bischöflicher Beauftragter für die "Aktion Arbeit" im Bistum Trier): Da sprechen Sie den wunden Punkt an. Solche Personen gibt es tatsächlich, aber sie sind aus unserer Wahrnehmung aus über 40 Jahren "Aktion Arbeit" eine absolut geringe Minderheit. Das ist eine symbolpolitische Scheindebatte, die damit angestoßen wird.
Das eigentliche Problem, mit dem wir am Arbeitsmarkt und mit der Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben, ist wesentlich umfassender und spielt an anderen Fronten.
DOMRADIO.DE: Warum denken Sie denn, dass so eine "Scheindebatte" in der Politik so hoch gehängt wird?
Ullrich: Ich denke, dass der Handlungsbedarf beim Thema Arbeitslosigkeit inzwischen gesehen wird. Man schaut, wie man diesem schwierigen Thema irgendwie beikommen kann.
Es ist ein schwieriges Thema. Das sehen Sie daran, dass wir im Prinzip seit Jahrzehnten immer noch fast eine Million Langzeitarbeitslose haben.
Das heißt, die ganzen Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik haben bisher nicht zu einer nennenswerten Problemlösung beigetragen. Es ist ein großes gesellschaftliches Problem, wenn Sie 960.000 Langzeitarbeitslose plus Familien haben, die daran hängen. Das sind über zwei Millionen Personen in Deutschland, die von diesem massiven Problem betroffen sind. Es wird Zeit, dass darauf hingearbeitet wird.
In der Entwicklung des Arbeitsmarktes kommen wir ohnehin schon aus ökonomischen Gründen nicht mehr an dieser Frage vorbei. Wenn wir nicht in ganz großem Ausmaß inländische und ausländische Personen in den Arbeitsmarkt integrieren, fehlen uns zum Ende des Jahrzehnts sieben Millionen Arbeitskräfte in Deutschland. Das besagen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit.
Diese sieben Millionen Menschen sind eine so große Zahl, dass wir dran gehen müssen, alle verfügbaren Reserven zu aktivieren, wenn wir in der Zukunft nicht mit erheblichen Einschränkungen in unserem Wirtschaftsleben und in unserem öffentlichen Leben existieren wollen.
DOMRADIO.DE: Wird in dieser Diskussion das Pferd vom ganz falschen Ende aufgezäumt? Denn es soll uns ja suggeriert werden, dass sich die Arbeitslosen auf Kosten der Allgemeinheit in der sozialen Hängematte ausruhen. Das stigmatisiert doch eher die Betroffenen?
Ullrich: Ja, und zwar zu Unrecht. Es gibt Einzelfälle, wo diese Kritik berechtigt ist. Aber das ist nach unserer Wahrnehmung bei einer verschwindend geringen Minderheit der Fall. Wer ein Jahr lang oder länger arbeitslos ist, verändert sich psychisch. Das ist das eigentliche Problem.
Das sind Menschen, die tief verletzt sind, wenn sie von niemandem gebraucht werden, wenn die Bekannten sie meiden, wenn sie in eine soziale Isolation geraten. Die verlieren ihren Tagesrhythmus, sie verlieren Fähigkeiten, die sie schon mal erworben hatten. Die brauchen Hilfe, um wieder aktiviert zu werden.
Die meisten wünschen sich das. Aber das ist eben nicht so einfach. Denn welcher Arbeitgeber stellt heute eine Person in unserem Hochlohnland ein, von der er von vornherein weiß, dass die leistungsgemindert ist?
Das ist unser zentraler Vorschlag als "Aktion Arbeit": Ein Arbeitgeber, der einen Langzeitarbeitslosen einstellt, nimmt rein ökonomisch zunächst mal im öffentlichen Interesse einen Wettbewerbsnachteil auf sich. Dem müssen wir öffentlich helfen, diesen Weg zu gehen.
DOMRADIO.DE: Wie kann das gehen?
Ullrich: Wir schlagen vor, einem Arbeitgeber einen Zuschuss von etwa 60 Prozent des Mindestlohns in der jeweiligen Branche zu zahlen, der einen Langzeitarbeitslosen einstellt. Und zwar unbefristet. Das ist der entscheidende Punkt. Die ganzen Programme, die es in der Vergangenheit gegeben hat, haben alle den Nachteil, dass sie nach spätestens zwei Jahren wieder enden und die Arbeitslosen danach in das Loch zurückfallen. Hier muss angesetzt werden.
Wer einen Langzeitarbeitslosen versicherungspflichtig einstellt, trägt dazu bei, dass wieder Rückflüsse entstehen. Denn dieser Arbeitslose wird zum Arbeitnehmer, zahlt Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, sodass ein solcher Ansatz insgesamt aufs Ganze gesehen um Milliarden günstiger ist als das, was wir heute machen.
DOMRADIO.DE: Die Versuchung scheint gerade groß zu sein, das zu simplifizieren. Also wenn jemand aus dem Niedriglohnsektor am Ende des Monats nur unwesentlich mehr bekommt als ein Bürgergeld-Empfänger, sollten dann nicht Maßnahmen ergriffen werden, damit der Anreiz zu arbeiten wieder größer wird?
Ullrich: Das ist wieder eine Verkürzung der Debatte. Natürlich ist es im europaweiten Vergleich so, dass wir in Deutschland bei weitem die höchsten Sozialleistungen zahlen. Mehr als sonst in Europa. Darüber kann man trefflich diskutieren.
Aber der entscheidende Punkt ist aus unserer Sicht eigentlich, dass die Arbeitslosen gar keine Almosen haben wollen. Die wollen keinen Zuschuss haben, um sich damit über Wasser zu halten. Die wollen aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie verdienen. Dabei muss den Menschen geholfen werden.
Die Diskussionen um Drückeberger und was da alles für Begriffe fallen, geht an der Realität vorbei. Das ist zu einfach. Das Problem ist komplex und muss auch komplex angegangen werden.
DOMRADIO.DE: Sicher ist es dann aber die falsche Maßnahme, den Jobcentern weniger Geld zukommen zu lassen, oder?
Ullrich: Wenn man bei den Ärmsten der Armen und bei den am meisten Benachteiligten spart, ist das wohlfeil vor diesen Vorurteilen, die in der Gesellschaft kursieren. Aber es verschärft ein riesiges gesellschaftliches Problem noch weiter, anstatt es zumindest ein wenig zu lindern oder gar zu lösen.
Das Interview führte Johannes Schröer.