Buch beschreibt untergegangenes Leben der Juden auf dem Land

Ein Miteinander, das ein jähes Ende fand

In Deutschland gab es nicht nur in den Großstädten ein vielfältiges jüdisches Leben. Auch auf dem Land lebten Juden, beispielsweise als Metzger oder Viehhändler. Ein neues Buch zeichnet die Spuren dieser untergegangenen Welt nach.

1913 in Herzebrock: Der dreijährige Walter Brill auf einem Stier – neben ihm drei Mitarbeiter der Schlachterei des Vaters Hugo Brill. / © Jüdisches Museum, Berlin
1913 in Herzebrock: Der dreijährige Walter Brill auf einem Stier – neben ihm drei Mitarbeiter der Schlachterei des Vaters Hugo Brill. / © Jüdisches Museum, Berlin

DOMRADIO.DE: Sie beleuchten mit Ihrem Buch das Leben von Juden auf dem Land in Westfalen. Beim Stichwort "Landjudentum" kann man sich vielleicht nicht sofort etwas vorstellen. Wie sah denn das typische Leben von Jüdinnen und Juden auf dem Land in Westfalen aus? Wie haben die beispielsweise ihren Lebensunterhalt bestritten? 

Gisbert Strotdrees, Redakteur beim Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben und Autor (privat)
Gisbert Strotdrees, Redakteur beim Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben und Autor / ( privat )

Gisbert Strotdrees (Redakteur und Autor): Sie lebten überwiegend vom Viehhandel, vom Getreidehandel, sie waren Metzger, Fleischer, oder lebten vom Textilhandel, von Konfektionsware. Das ist das typische Bild. 

Aber es gab eben auch die arme jüdische Familie auf dem Land, die also wirkliche "Habenichtse" waren und sehr ärmlich lebten. 

Es gab auf der anderen Seite im 19. Jahrhundert den Weg dann in die akademischen Berufe, also als Arzt oder Rechtsanwalt. Einige arbeiteten als Kaufleute, es gab auch Landwirte, wenn auch wenige, aber es gab sie. So ergibt sich ein durchaus vielschichtiges Bild in voller gesellschaftlicher Breite. 

DOMRADIO.DE: Wie sind Sie denn auf dieses Thema gekommen? 

Strotdrees: Als Redakteur habe ich mich immer wieder mit dem Thema befasst. Ich schreibe historische Serien im Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben. Und da habe ich immer wieder Beiträge über jüdische Themen im ländlichen Raum veröffentlicht. Der eigentliche Anstoß kam dann zum Gedenkjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" im Jahr 2020/21. 

Da hatte ich die Idee, diese Beiträge, die ich über viele Jahre immer mal wieder verfasst habe, zu einer Internetseite zusammenzustellen und habe dann gemerkt, dass sie ein interessantes und durchaus auch schlüssiges Bild gibt. Die Internetseite wurde schon gut nachgefragt. 

Daraus habe ich eine Artikelserie im Wochenblatt veröffentlicht. Und die Artikelserie lief über 40 Folgen. Ich habe sehr viel Resonanz von Leserinnen und Lesern bekommen. Durchweg positive muss ich auch dazu sagen. Das hat mich sehr überrascht. Ich hatte auch damit gerechnet, kritische, antijüdische, antisemitische Stimmen durchaus zu bekommen. In früheren Beiträgen war das gelegentlich der Fall. Dieses Mal aber überhaupt nicht. Die Serie hat ein sehr großes Echo ausgelöst, und dann kam sehr schnell die Idee, daraus ein Buch zu machen. 

DOMRADIO.DE: Und wie muss man sich das Zusammenleben von Juden und Christen in einem kleinen Dorf im 19. Jahrhundert vorstellen? Konnten da die Juden halbwegs gleichberechtigt leben? 

Strotdrees: Gleichberechtigt legt ja in gewisser Weise sofort die Vorstellung der restlichen Emanzipation nahe, aber die haben wir in Westfalen erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Es gab sehr viel ein Nebeneinanderher-Leben, es gab aber auch ein Gegeneinander, also heftigste, antijüdische, antisemitische Auseinandersetzungen. Zum Beispiel, wenn es um christliche Feiertage ging. Das war natürlich immer an Tagen wie Karfreitag oder Ostern der Fall. Das stellt den klassischen Konfliktfall dar. Oder Konflikte gab es auch bei Festivitäten wie Schützenfesten, die ja häufig von christlichen Bruderschaften getragen waren. Da waren Juden lange ausgeschlossen. 

Gisbert Strotdrees

"Es entstand auch ein wachsendes Miteinander – nicht zuletzt durch den Handel, durch die räumliche Nähe im Dorf und eben auch durch die Öffnung für die Juden vor allem bei den weltlichen Vereinen."

Zu pogromartigen Ausschreitungen kam es 1848 während der Revolution, und dann noch einmal in den 1870er-Jahren in einzelnen Orten Westfalens. Aber das Bild wandelt sich im 19. Jahrhundert. Es entstand auch ein wachsendes Miteinander – nicht zuletzt durch den Handel, durch die räumliche Nähe im Dorf und eben auch durch die Öffnung für die Juden vor allem bei den weltlichen Vereinen, also der Musikvereine, der Feuerwehren, der Schützenvereine, die halb weltlich, sozusagen religiös geprägt waren, der Turnvereine und so weiter. 

Da gab es dann durchaus ein Miteinander, es ergibt sich auch da ein sehr vielschichtiges Bild. Man kann nicht eindeutig sagen, dass es den Juden auf dem Land schlechter ging als in der Stadt oder umgekehrt. Beide Bilder wären zu pauschal und zu einseitig. 

DOMRADIO.DE: Sie sprechen im Titel des Buches von "vergessenen Welten in Westfalen". Aber ganz vergessen ist diese Welt ja nicht. Welche Spuren haben sich denn erhalten?

Strotdrees: Ja, Sie haben Recht, das Wort "vergessen" ist leicht überzeichnet. Aber wenn wir an Judentum denken, dann denken wir zuallererst an die großen Namen von Mendelssohn bis Hannah Arendt, wir denken an Berlin, Frankfurt, Köln oder München, also an die Orte großer jüdischer Gemeinden, die ja auch eine große Tradition haben. Beispielsweise in Westfalen ist Dortmund, eine der größten jüdischen und ältesten jüdischen Gemeinden hierzulande. Münster und Bielefeld sind auch große jüdische Gemeinden mit einer starken Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. 

Synagoge in Köln / © Julia Steinbrecht (KNA)
Synagoge in Köln / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Aber wir denken eben nicht an die Dörfer und an die Kleinstädte bis etwa 2000 bis 3000 Einwohner. Die prägen nicht unbedingt das Bild, das man vom Leben der Juden hat. Deswegen habe ich - leicht überzogen - von "vergessenen Welten" geschrieben. Es gibt natürlich noch Spuren, gerade in vielen kleineren Orten in Ostwestfalen gibt es ganz besonders viele jüdische Friedhöfe, die bis heute erhalten und gepflegt oder wieder gepflegt werden. 

Es gibt Museen, es gibt wenige erhaltene Synagogen als Gedenkstätten. Also, insofern: Ganz vergessen ist dieses jüdische Leben nicht. Aber die Geschichte der Juden auf dem Land ist bis weit in die 1970er und 80er-Jahre verdrängt worden. 

1885 errichtete die jüdische Gemeinde in Pömbsen eine achteckige Synagoge. Sie wurde beim Novemberpogrom 1938 zerstört. / © Archiv Leo Baeck Institute_The Center for Jewish History, New York (USA)
1885 errichtete die jüdische Gemeinde in Pömbsen eine achteckige Synagoge. Sie wurde beim Novemberpogrom 1938 zerstört. / © Archiv Leo Baeck Institute_The Center for Jewish History, New York (USA)

DOMRADIO.DE: Spätestens mit der Nazizeit und dem Holocaust endete ja an sehr vielen Stellen das jüdische Leben, wie Sie es eben beschrieben haben, auch in Westfalen. Weiß man denn ungefähr, was aus den Juden dieser Zeit, die bis in die 1930er-Jahre dort gelebt haben, geworden ist? Sind die alle Opfer des Holocausts geworden? 

Strotdrees: Es ist schwierig, das zahlenmäßig genau aufzuschlüsseln. Aber wenn wir in die 1920er-Jahre schauen; da gibt es eine Statistik für Preußen, und Westfalen war ja damals eine preußische Provinz. Wir haben also damals in Westfalen etwa 21.600 Jüdinnen und Juden in den drei westfälischen Regierungsbezirken. Davon lebte etwa ein Drittel im ländlichen Raum. Also wir reden von etwa 7000 bis 7500 Personen. 

Gisbert Strotdrees

"Spätestens durch den großen Zivilisationsbruch der Novemberpogrome 1938 war allen klar, dass sie in sehr großer Gefahr waren."

Ein großer Teil hat das Land in den 1930er-Jahren verlassen, ist ausgewandert, beziehungsweise ist durch die NS-Verfolgung vertrieben worden. Vor allem die jüngeren Jüdinnen und Juden haben das Land als erste verlassen. Spätestens durch den großen Zivilisationsbruch der Novemberpogrome 1938 war allen klar, dass sie in sehr großer Gefahr waren. Bis dahin hatten die Jüdinnen und Juden immer noch gesagt: "Wir sind Menschen hier, wir sehen uns als Deutsche, als Westfalen, als Patrioten." Doch 1938 war aber wirklich allen klar: "Dieses Land trachtet nach unserem Eigentum, nach unserer Existenz, nach unserem Leben." 

Und wer da noch das Glück hatte, das Land verlassen zu können, hat das getan. Es sind bei den Deportationen, die dann ab Ende 1941 hier in Westfalen und auch im Rheinland eingesetzt haben, Tausende in die Vernichtungslager deportiert worden. 

Brandstiftung: Am 10. November 1938 brannte in der ländlichen Kleinstadt Salzkotten die aus Fachwerk und Ziegelstein errichtete
Synagoge. / © NRW-Landesarchiv, Abt. Ostwestfalen-Lippe, Detmold
Brandstiftung: Am 10. November 1938 brannte in der ländlichen Kleinstadt Salzkotten die aus Fachwerk und Ziegelstein errichtete Synagoge. / © NRW-Landesarchiv, Abt. Ostwestfalen-Lippe, Detmold

DOMRADIO.DE: Und weiß man, ob es auch so etwas wie Unterstützung der Bevölkerung für die Juden gab, wurde beispielsweise versucht, Juden bei sich zu verstecken? 

Strotdrees: Ja, es gibt ja das berühmte Beispiel der Familie Spiegel aus Ahlen. Marga Spiegel, eine Tante des späteren Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, hat darüber in den 1960er-Jahren ein Buch geschrieben, in dem sie beschreibt, wie sie sich mit ihrer Tochter und ihrem Ehemann auf Bauernhöfen im Münsterland verstecken konnte. Aber das ist die Ausnahme. Eine hoch ehrenwerte und wirklich heldenhafte, denn es hätte die beteiligten Bauernfamilien das Leben gekostet, wenn man sie entdeckt hätte. 

Paul Spiegel (dpa)
Paul Spiegel / ( dpa )

Aber es war die Ausnahme. Es gab nur wenige andere Fälle. Natürlich gab es auch Hilfestellungen von einzelnen Personen, von Nachbarn, von Freunden, auch von vorher Unbekannten – dazu sind etliche Zeugnisse überliefert. Aber man muss sagen, dass das nicht die Regel war. 

DOMRADIO.DE: Wir leben ja in einer Zeit, in der die heutigen Juden ungeahnte Anfeindungen erleben müssen. Oft ist ja der Blick in die Vergangenheit hilfreich bei der Bewältigung aktueller Probleme. Welche Lehren aus der Vergangenheit der Landjuden in Westfalen kann man vielleicht für heute ziehen? 

Strotdrees: Für uns Nichtjuden kann ich nur sagen, dass wir aufmerksam und wachsam bleiben müssen. Und ich kann nur unterstreichen, was die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer das neulich sehr eindrucksvoll auf den Punkt gebracht hat: "Mensch bleiben!"

Das Interview führte Mathias Peter.

Informationen zum Buch: Jüdisches Landleben. Vergessene Welten in Westfalen
LV.Buch im Landwirtschaftsverlag, 180 Seiten, Hardcover, 24 Euro 
ISBN 978-3-7843-5781-2 

 

Starke Zunahme von Antisemitismus an Schulen

Der Terror der Hamas in Israel heizt offenbar auch Konflikte auf deutschen Schulhöfen an. Seit dem Terrorkrieg der Hamassei an Schulen eine starke Zunahme von antisemitischen, israelfeindlichen und islamistischen Parolen zu beobachten, sagte die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, der Zeitung "Tagesspiegel". "Antisemitische Einstellungen und Verschwörungsmythen sind leider auch in muslimischen Communities weit verbreitet", so Ataman.

Die Publizistin Ferda Ataman nach ihrer Wahl zur Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung im Deutschen Bundestag. Ataman will Sonderregelungen für kirchliche Arbeitgeber einschränken. / © Bernd von Jutrczenka (dpa)
Die Publizistin Ferda Ataman nach ihrer Wahl zur Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung im Deutschen Bundestag. Ataman will Sonderregelungen für kirchliche Arbeitgeber einschränken. / © Bernd von Jutrczenka ( dpa )

 

 

Quelle:
DR