Welches Verfügungsrecht hat der Staat über den Einzelnen, um das Überleben Dritter zu ermöglichen? Das war eine der Kernfragen, mit denen sich der Bundestag am Mittwoch in einer Orientierungsdebatte zur Organspende befasste.
Hintergrund sind die anhaltend niedrigen Zahlen an Organspenden. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte im Sommer überraschend die Einführung der sogenannte Widerspruchsregelung gefordert. Angesichts der ethischen Tragweite wollte sich der Bundestag wie schon bei der Sterbehilfe zunächst über das Für und Wider austauschen - vor jeder Gesetzesinitiative.
Bundesgesundheitsminister will Neuregelung
Nach Spahns Vorschlag soll jeder Mensch potenzieller Organspender sein, außer er hat dem zu Lebzeiten widersprochen. Auch Angehörige können dies unter Berufung auf den Willen des Verstorbenen ablehnen.
Dies wäre eine Umkehrung der geltenden Regel: Derzeit ist in Deutschland Spender nur, wer zu Lebzeiten persönlich zugestimmt hat. Liegt keine schriftliche Bekundung vor, dürfen auch die Angehörigen im Sinne des Spenders entscheiden.
Debatte am Mittwoch im Bundestag
In der ausgesprochen ernsthaft geführten zweieinhalbstündigen Aussprache ergriffen 36 Abgeordnete für je vier Minuten das Wort. Spahn erinnerte an die über 10.000 Menschen, die derzeit auf ein Spenderorgan warteten - bei nicht einmal 800 Organspendern im Jahr 2017.
Claudia Schmidtke (CDU) mahnte, die Not der Patienten dulde keinen Zeitaufschub. Und der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der sich seit langem für den Systemwechsel stark macht, sah darin „das Optimum“ an möglicher Spendermobilisierung. "Jeder vierte Patient stirbt derzeit auf der Warteliste."
Doch genau die Frage nach dem Optimum erwies sich als strittig. Zunächst verwiesen viele Redner auf die hohe Spendenbereitschaft: 84 Prozent der Bürger äußerten sich positiv zur Organspende, 36 Prozent hätten inzwischen einen Spenderausweis, betonten gleich mehrere Abgeordnete. Das eigentliche Problem liege also nicht bei der Spendenbereitschaft, sondern in der Organisation, so SPD-Fraktionsvize Hilde Mattheis.
Um diesen "Flaschenhals" zu öffnen, hat Spahn ein eignes Gesetz zur Verbesserung von Struktur, Finanzierung und Organisation vorgelegt. Unverständnis äußerte deshalb nicht nur Mattheis für den weiteren Vorstoß Spahns.
Selbstbestimmungsrecht soll nicht eingeschränkt werden
Grundsätzlich sahen viele Redner aus allen Fraktionen in der Widerspruchlösung einen Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht. Für Katja Keul (Grüne) steht die Widerspruchslösung sogar im Widerspruch zu Artikel eins des Grundgesetzes: Er untersage es, den Menschen zum Objekt zu machen, selbst um der Rettung des Lebens anderer willen.
Die FDP-Politikerin Christine Aschenberg-Dugnus betonte, dass es nicht hinnehmbar sei, ein Schweigen als Zustimmung zu deuten, und Wolfgang Kubicki (FDP) wandte sich auch gegen eine verbindlichere Zustimmungslösung, da der Staat niemand zur Entscheidung nötigen dürfe.
Diese Idee will hingegen Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock mit anderen Abgeordneten, wie der Parteichefin der Linken, Katja Kipping, aufnehmen. Dabei soll der Bürger etwa beim Ausstellung des Personalausweises immer wieder befragt werden - wobei sie auch das Recht haben sollen, sich nicht zu entscheiden. Das Votum solle dann in einem zentralen Melderegister hinterlegt werden. In ähnliche Richtung geht CSU-Gesundheitsexperte Stephan Pilsinger, der ebenfalls einen faktionsübergreifenden Antrag anstrebt.
Pilsinger widersprach dem Argument, dass die höhere Spenderzahl in anderen Ländern allein auf die dort gültige Widerspruchlösung zurückzuführen sei.
Der ehemalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) warnte in diesem Zusammenhang vor Vergleichen mit den Niederlanden oder Belgien, weil dort viele Organe schon nach einem Herztod und nicht nach einem Hirntod entnommen würden.
Spende sei Akt von Solidarität und Nächstenliebe
Dabei würdigten alle Gegner der Widerspruchslösung die Spendenbereitschaft als Akt von Solidarität und Nächstenliebe. Gerade deshalb müsse er aber bewusst und frei geschehen, so etwa Michael Brand (CDU). Wie viele andere forderte er mehr Transparenz, Werbung und Information. Ein automatischer staatlicher Zugriff auf den Leib drohe hingegen die Grundlage aller Spendenbereitschaft zu unterminieren: Das Vertrauen.