DOMRADIO.DE: Wie haben Sie diese Entscheidung aufgenommen?
Dr. Thorsten Hinz (Geschäftsführer des Bundesverbandes der Caritas-Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V.): Wir haben uns riesig gefreut. Es ist bis zu diesem Urteil ein langer Weg gewesen.
DOMRADIO.DE: Sie haben in ihren Einrichtungen mit Menschen, die bisher nicht wählen durften zu tun. Inwieweit war diese Einschränkung dort ein Thema?
Hinz: Die Einschränkung war immer Thema. Sie spiegelt eigentlich die Debatte über politische Teilhabe wider, wie sie sich auch in der Normalgesellschaft verhält. Es gibt viele behinderte Menschen, die wählen wollen, können und die immer auch dieses Recht eingefordert haben, es aber nicht durften – aufgrund dieser Wahlgesetzgebungen. Natürlich gibt es genauso behinderte Menschen, die zum politischen Leben relativ indifferent sind. Auch das ist der Spiegel unserer Gesellschaft.
DOMRADIO.DE: Genau das ist ein Argument für den Ausschluss von Wahlen: das Politikverständnis geistig behinderter Menschen wird infrage gestellt. Was entgegnen Sie denjenigen, die betreuten Menschen eine Wahlentscheidung am Ende gar nicht zutrauen?
Hinz: Genau das ist das, was das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt hat. Es kommt aus der Vergangenheit und ist leider eine sehr lange Tradition, die aus sehr schlimmen Zeiten rührt. Das Menschen mit Behinderung, die unter voller rechtlicher Betreuung stehen, nicht fähig sind zu wählen, ist eine pauschale Bewertung. Das hat das Gericht eindeutig als verfassungswidrig erklärt, weil im Grunde im Einzelfall zu entscheiden ist. Nicht wählen zu dürfen, wurde aber in diesem Falle pauschal über eine relativ große Gruppe verhängt. Da ist deutlich geworden: Grundrechte sind nicht verhandelbar und sie müssen für alle zugänglich sein. Wir sind sehr froh, dass das Bundesverfassungsgericht das nun öffentlich klargestellt hat.
DOMRADIO.DE: Kann denn im Gegenzug dazu ein pauschales Wahlrecht für alle Menschen nicht auch Tor und Tür für zum Beispiel Manipulation öffnen?
Hinz: Die Gefahr haben wir doch immer, wenn wir über Wahlen oder über Grundrechte sprechen. Sie sind ein sensibles Gut, das in einer Demokratie immer wieder neu verteidigt werden muss. Wenn man darüber spricht, dass es bestimmte Gruppen von Menschen gibt, die nicht fähig sind, eine Wahlentscheidung zu treffen, dann ist man sehr schnell auch dabei, bei vielen anderen Gruppen über einen solchen Wahlrechtsausschluss nachzudenken.
Da sind wir sehr froh, dass das Verfassungsgericht erklärt hat, dass das so nicht sein kann. Menschen – egal ob behindert oder nicht behindert – steht das Wahlrecht als ein Grundrecht, als ein elementares Grundrecht offen. Denken wir nur an die vielen Demenzkranken in unserer Gesellschaft.
DOMRADIO.DE: Mehrere Betroffene hatten Beschwerde eingelegt. Eine Frau aus einer Einrichtung der Caritas Wohn- und Werkstätten Paderborn hatte zum Beispiel geklagt. Sie haben diese Klage auch maßgeblich mit unterstützt. Haben Sie jetzt mit ihr schon sprechen können?
Hinz: Ja. Wir haben heute mit ihr sprechen können. Sie war hellauf begeistert und glücklich, dass sie jetzt hoffentlich bei der nächsten Wahl dabei sein darf. Sie ist eine Frau, die durch den Umzug in eine Einrichtung das Wahlrecht entzogen bekommen hat. Davor hatte sie das Wahlrecht. Umso weniger hat sie verstanden, wieso man es ihr entzogen hat.
Wir hatten mit den Menschen bei der vorletzten Bundestagswahl 2013 Widerspruch eingelegt und den Klageweg bestritten. Bei der Bundestagswahl 2017 mussten wir daraufhin erneut den Widerspruch und die Klage wiederholen. Sie sehen, es ist ein sehr langer Weg gewesen.
DOMRADIO.DE: Heißt es konkret, die Frau wird bei der anstehenden Europawahl Ende Mai ihr Kreuzchen machen dürfen?
Hinz: Das ist vielleicht noch nicht so hundertprozentig klar und wird jetzt interessant sein, wie Juristen und Politiker diese Rechtsprechung bewerten. Wir deuten es so, dass sie eigentlich wählen darf. Aber es gibt immer wieder auch Interpretationen. Im Falle der Menschen, die in der Psychiatrie aufgrund einer Tat untergebracht sind, die sie schuldunfähig begangen haben, ist das jetzt eindeutig. Die Rechtsprechung gilt unmittelbar. Diese Menschen müssen wählen dürfen.
Bei dieser Personengruppe, die unter voller rechtlicher Betreuung stehen, ist es interpretationswürdig. Wir als Caritas bewerten es so: Ja, eigentlich müsste sie jetzt bei der Europawahl wählen dürfen. Der Bundesgesetzgeber ist gut beraten, die Voraussetzungen entsprechend dafür zu schaffen.
Das Interview führte Verena Tröster.