Dies ist ein Auszug aus dem aktuellen "Himmelklar"-Podcast. Das komplette Interview zum Anhören gibt es hier:
Himmelklar: Es ist fast genau ein Jahr her, dass die Taliban in Afghanistan die Macht wieder übernommen haben. Sie waren da quasi täglich, fast stündlich überall in den Medien, weil Sie noch vor Ort gewesen sind. Wenn Sie jetzt so ein bisschen mit Abstand auf das gucken, was vor zwölf Monaten passiert ist: Was war das für eine Zeit? Was geht Ihnen da so im Rückblick durch den Kopf?
Stefan Recker (Büroleiter Kabul von Caritas international): Das war eine sehr chaotische Zeit. Gerade unmittelbar vor und nach dem 15. August. Ich selbst bin am 17. August ausgeflogen, aufgrund einer Dienstanweisung unserer Geschäftsleitung. Ich wollte eigentlich hier bleiben, aber das durfte ich nicht. Ich bin dann über den Kabuler Flughafen ausgeflogen worden und am 23. Dezember wieder hierhin zurückgekommen.
Diese Rückkehr war auf der einen Seite sehr fremd, aber auf der anderen Seite sehr vertraut. Das Straßenbild war nicht wesentlich anders, aber es gab erste kleine Nuancen, die schon ein bisschen anders waren. Das Warenangebot in den Geschäften etwa, das war sehr viel kleiner, als es noch im August war.
Ich war letztes Jahr noch vorsichtig optimistisch, was das Verhalten der Taliban betrifft und was sie erlauben werden, gerade im Bereich Zivilrecht oder Rechten von Frauen und anderen Minderheiten. Dieser Optimismus hat sich leider nicht bewahrheitet. Die Frauenrechte werden hier mit Füßen getreten, Menschenrechte sowieso. Also die Lage ist nicht gut in der Hinsicht.
Himmelklar: Vor einem Jahr hat man relativ häufig gelesen, dass die Taliban ja auch auf Beziehungen mit anderen Staaten angewiesen sind, um auch finanzielle Unterstützung zu bekommen. Heißt das, das funktioniert dann im Moment überhaupt nicht?
Recker: Ja, haargenau. Keine Regierung der Welt hat die Taliban anerkannt. Interessanterweise selbst die üblichen Kandidaten, also die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi Arabien und Pakistan, die ja die einzigen waren, die die Taliban in den 1990er-Jahren anerkannt hatten, selbst die haben die aktuelle De-facto-Regierung nicht anerkannt.
Was interessant ist, ist, dass das die Chinesen hier sehr präsent sind mittlerweile. Ich bin am Freitagmorgen am Flughafen angekommen und da war ein riesiges Schild, dass ein chinesisches Unternehmen hier ein komplett neues Viertel aus dem Boden stampft und dass die Kooperation zwischen China und Afghanistan erweitert werden soll. Das fand ich ziemlich interessant, dass die Taliban im Prinzip von einem Land, das die eigene uigurische, muslimische Minderheit unterdrückt, Hilfe bekommen und auch diese akzeptieren.
Himmelklar: Sie sind seit langen Jahren schon aktiv in Afghanistan. Sie waren 1995 das erste Mal da. Sie wissen, wie es damals gewesen ist und wie es heute ist. Arbeiten in einem der schlimmsten Konfliktgebiete. Warum tun Sie sich das an?
Recker: Na ja, es ist meine Arbeit. Jeder, der sagt, Afghanistan ist gefährlich, dem sage ich: Ist es nicht. Ich habe in viel gefährlicheren Situationen gearbeitet. Ich war in Sierra Leone während des Krieges dort. Ich war in Haiti nach dem Erdbeben und mit all diesen Bandenkriegen dort. Afghanistan ist gerade nach dem Zusammenbruch der Republik bzw. der Machtübernahme der Taliban sehr viel sicherer als viele andere Länder, wo ich gearbeitet habe.
Das Problem, das ich habe, ist einfach die soziale Isolation. Mein Leben ist hier in einem Hof von 40 mal 20 Metern mit drei Gebäuden drauf, wo ich in einem wohne. Das ist das, was ich tagtäglich sehe. Zwei bis drei Mal die Woche komme ich hier raus zu irgendwelchen externen Besprechungen oder zum Einkauf. Aber das Leben ist nicht lustig hier. Das ist das, was mich mehr betrifft als eine mögliche Gefahr hier.
Die Gefahr ist sehr viel geringer, als sie noch im August letzten Jahres war, wo die Wahrscheinlichkeit relativ hoch war, dass man bei einem Außentermin, also bei einer Fahrt außerhalb des Büros bei einem Anschlag unter Umständen Kollateralschaden werden könnte. Das war auch meine größte Sorge bezüglich meiner nationalen Kolleginnen und Kollegen, dass die beim Pendeln von und zur Arbeit unter Umständen Kollateralschaden werden, wenn irgendwo eine Bombe hochgeht.
Himmelklar: Sie haben gesagt, Sie kommen nicht raus. Wie sieht denn Ihr Alltag aus? Dann geht man also auch nicht mal durch die Stadt, um einen Spaziergang zu machen?
Recker: Nein. Die Kriminalität ist relativ hoch, gerade Straßenraub. Das kommt daher, dass einfach die Wirtschaftslage so katastrophal ist und weil die Taliban nicht die Möglichkeit haben, hier eine effektive Kriminalitätskontrolle zu machen. Die Polizei ist ja sowieso weggelaufen und versteckt sich. Und die Taliban selbst sind dazu nicht in der Lage, alleine von den Mengen und von der Personenzahl her.
Meine Arbeit hier ist im Prinzip eine ganz normale Büroarbeit mit einem gewissen Exotik-Faktor. Ich kriege am Tag etwa 60 bis 70 E-Mails, die ich irgendwie bearbeiten und antworten und abheften muss. Es sind Besprechungen mit Kolleginnen und Kollegen hier mit Partnerorganisationen, die Besprechungen mit unserer Geschäftsleitung in Freiburg. Wie gesagt, das ist eine Büroarbeit mehr oder weniger hier. Also wenn ich mal rauskomme und einen Partnerbesuch mache, bin ich froh.
Himmelklar: Heißt das, man kann auch nicht mal abends ins Restaurant gehen oder sich mit Freunden treffen? Ist so etwas möglich?
Recker: Das ist schon möglich. Ich gehe abends nicht raus. Das hat aber persönliche Gründe. Mittags gehe ich schon mal ins Restaurant. Aber ich gehe beispielsweise nicht an jedem Freitag um 12:00 Uhr zur gleichen Zeit in das gleiche Restaurant, einfach als Kriminalitätsprävention. Ich bin da sehr vorsichtig.
Unser Wochenende ist ja Freitag und Samstag. Und ich treffe mich dann an mindestens einem Tag von einem Wochenende schon mal mit einem Kollegen von einer anderen Hilfsorganisation oder besuche die zu Hause. Oder ich werde besucht. Also das kommt schon vor.
Himmelklar: Stehen Sie denn als Westler und als offensichtlich nicht Einheimischer da noch mal anders im Fokus?
Recker: Jein. Ich habe bis jetzt noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, was Kontrollen durch die De-facto-Autoritäten, also die Taliban, betrifft. Ich fand sie bis jetzt immer, was mich betrifft, relativ freundlich und höflich. Aber das, was mir nationale Kolleginnen und Kollegen sagen, ist schon wieder ein anderes Bild. Sie werden dann beschimpft, dass sie für die Westler arbeiten und dass sie auf dem Weg sind, Christen zu werden. Dann heißt es, sie sollen doch bei den Muslimen bleiben.
Himmelklar: Christen ist ein wichtiges Stichwort. Sie arbeiten nicht als säkularer Entwicklungshelfer, Sie arbeiten für eine christliche Organisation: Caritas international. Inwiefern ist das jetzt unter den Taliban schwieriger geworden, für die Caritas zu arbeiten?
Recker: Das hat keine Auswirkung. Wir treten hier nicht als christliche Organisation auf. Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes hat sich hier in Afghanistan noch nie als christliche Organisation positioniert. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein großer Teil unserer nationalen Teammitglieder hier gar nicht weiß, dass wir eine christliche Organisation sind.
Wir führen keine Diskussionen darüber. Wir führen einfach Hilfsprojekte für marginalisierte Bevölkerungsgruppen beziehungsweise für arme Menschen durch – durch unsere Partner. In anderen Ländern, wo es eine lokale Caritas gibt, würden wir diese lokale Caritas einbinden als unseren durchführenden Partner. Hier sind das ganz normale afghanische oder auch internationale Hilfsorganisationen, die wir finanziell und im Berichtswesen unterstützen.
Himmelklar: Müssen Sie sich eigentlich Gedanken machen, dass wir jetzt sprechen oder dass Sie generell über solche Themen mit Medien im Ausland reden? Oder haben das die Taliban überhaupt nicht auf dem Schirm?
Recker: Ich denke schon, dass Taliban-Vertreter in westlichen Ländern sich schon mal bestimmte Fernsehberichte oder Radioberichte anhören. Ich versuche meine Kritik an den Taliban halbwegs respektvoll zu gestalten und Sachen so zu benennen, wie sie sind in meinen Augen – und nicht meine Ablehnung der Taliban-Bewegung per se zu zeigen. Ich habe selbst auch noch nie hier Ärger bekommen bis jetzt. Ich weiß natürlich nicht, was kommt, aber ich bin mal vorsichtig optimistisch, dass wir da auch ein zu kleines Licht sind, um auf dem Radar von irgendwelchen bestimmten Gruppierungen aufzutauchen.
Himmelklar: Sie haben gesagt, Sie stellen nicht in den Mittelpunkt, dass Sie eine Organisation mit christlichem Hintergrund sind. Deswegen wird es wahrscheinlich auch nicht die Möglichkeit für Gottesdienste geben. Oder kriegen Sie irgendwas mit, was im Untergrund passiert?
Recker: Wir selbst führen absolut keine Gottesdienste durch. Wir sprechen über Religion hier nicht im Büro. Das ist kein Thema. Wir führen hier auch keine Messen oder sonstigen Rituale durch, einfach aufgrund der Tatsache, dass das nicht unser Mandat ist und man natürlich aufpassen muss, dass wir nach außen nicht als christliche Organisation wahrgenommen werden.
Himmelklar: Hat sich der Umgang mit den Christen zur Taliban-Regierungszeit in den 90ern geändert? Ist das jetzt noch mal heftiger geworden?
Recker: Nein, das ist nicht heftiger geworden. In den Neunzigern gab es ja mehrere Fälle von christlichen Organisationen aus anderen Ländern, deren internationale Teammitglieder festgesetzt worden sind und monatelang im Gefängnis saßen. Aber das ist uns hier noch nicht passiert und da achte ich auch drauf, dass wir auf gar keinen Fall angegangen werden in dieser Hinsicht.
Himmelklar: Sie haben ja auch ein Logo als Caritas, wo ein Kreuz drauf ist. Ist das dann nirgendwo zu sehen?
Recker: Das zeigen wir schon. Wenn Partner aber sagen, in dem Gebiet, wo sie ein Projekt durchführen, sehen sie das als schwierig an, dann erlauben wir ihnen schon, den oberen Teil einfach wegzulassen. Dann steht da tatsächlich nur noch Caritas Germany. Das haben wir in Absprache mit unserer Geschäftsleitung gemacht, aber auch in Absprache mit Gebern. Also falls in einem Gebiet dieses Symbol als hinderlich gesehen wird, dann erlauben wir den Partnern, das ein bisschen umzugestalten.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.