Das erste, was sich Christine zugelegt hat, ist ein Nickname. Deshalb hat sie in diesem Text nur einen Vornamen.
Christine schreibt ihre Mails anonym, so wie auch die Mails an sie vertraulich sind. Darin geht es um zutiefst persönliche Dinge. Die heute 24-Jährige hilft jungen Menschen, die mit dem Gedanken spielen, sich das Leben zu nehmen. U25 heißt diese Online-Suizidberatung von der Caritas von Jugendlichen für Jugendliche, insgesamt an elf Standorten in Deutschland gibt es sie. Einer davon ist seit 2017 Nürnberg. Doch dessen Zukunft ist fraglich.
Häufigste Todesursache bei jungen Menschen
Die Idee dazu wurde vor etwa 20 Jahren im Südwesten geboren. Der Arbeitskreis Leben (AKL) baute in der Erzdiözese Freiburg 2001 die erste E-Mail-Beratung unter dem Namen U25 auf und startete damit ein Erfolgsmodell. Und Statistiken zeigen, dass diese Hilfe auch gebraucht wird. Suizid ist die häufigste Todesart bei jungen Menschen in Deutschland.
Ausbildung für Ehrenamtliche
Auch Christine kennt Menschen in ihrem Umfeld, die schwere psychische Probleme haben, wie sie sagt. Die Studentin hat 2019 in einer Studierenden-Gruppe auf Facebook von U25 Nürnberg gelesen und sich als ehrenamtliche Beraterin, als sogenannte Peer, beworben. Doch bevor es bei Christine mit der ersten Mail losging, absolvierte sie eine Ausbildung. Neben Theorien über Suizidalität und Gesprächsführung stand auch Eigenwahrnehmung auf dem Lehrplan. Danach ist Intervisionen Pflicht für alle Beraterinnen und Berater.
Die Berater sollen ausdrücklich nicht Experten sein, sagt Jennifer Catsam. Die Sozialpädagogin betreut das Projekt bei der Nürnberger Caritas. Sie verteilt die Mails auf die 30 Peers - je nachdem, wie viel Kapazitäten diese haben. Im Schnitt sind es ein bis drei Ratsuchende pro Peer. Etwa ein Drittel davon hat nur einmal Kontakt, ein weiteres über mehrere Monate, der Rest bleibt Jahre im Austausch mit den ehrenamtlichen Beraterinnen und Beratern.
Zuhören hilft
Bis zu einer Woche haben die Ehrenamtlichen Zeit, auf die Mails zu antworten, wie Catsam betont. Die 26-jährige Katharina, die ebenfalls Peer ist, erzählt, dass sie zu Beginn ihrer Tätigkeit noch nervös alle zwei Stunden auf die U25-Plattform geschaut habe, ob eine erste Mail für sie da sei. Und Christine kann sich noch genau erinnern, wie aufgeregt sie bei ihrer ersten Antwort gewesen sei - obwohl Hauptamtliche wie Catsam ihr zur Seite standen. Geduld, das habe man im Laufe der Jahre gelernt, sagen Christine und Katharina. Und, dass einfach nur Zuhören hilft - ohne sofort eine schnelle Lösung parat zu haben.
In Kontakt bleiben
Den Druck, schnell zu antworten, verspüren Christine und Katharina nicht mehr. Und bei den Ratsuchenden sei gerade auch das Warten auf Antwort Teil der Suizidprävention. "Es kann lebensrettend sein, wenn ich in Beziehung bin", sagt Catsam. Doch durch die Vertraulichkeit ist ein Mensch mit konkreten Selbsttötungs-Absichten nicht per Telefon zu erreichen. Auch der Aufenthaltsort ist nicht bekannt. Was also tun? Es gehe darum, in Kontakt zu bleiben, sagt Catsam, die alle Mails zeitnah liest. Ist es akut, rät sie dann auch, sich in die Klinik zu begeben.
U25-Projekt zeigt Wirkung
Eine Evaluierung der Universität Erlangen-Nürnberg habe erste Hinweise darauf gegeben, dass sich die Suizidalität bei Ratsuchenden durch das Projekt verringert habe, berichtet die Caritas-Mitarbeiterin. Eine weitere Untersuchung ist dieses Jahr angelaufen, um die Wirksamkeit des Angebots konkret zu messen. Dazu kommt, dass die Nachfrage ungebrochen hoch ist. Lediglich zu einem Viertel des Jahres sei das Portal für neue Anfragen überhaupt geöffnet, den Rest der Zeit können keine neuen Hilfesuchenden angenommen werden, wie Catsam erklärt. Auch an Peers mangelt es nicht. Für die Ausbildung gibt es Wartelisten.
Ungewisse Zukunft
Die Finanzierung von U25 in Nürnberg ist nicht gesichert. Eine halbe Stelle wird vom Bund bis Ende 2024 finanziert, der Freistaat Bayern hat ebenfalls nur eine zeitlich begrenzte Projektförderung ermöglicht. Zehn Prozent trägt die Caritas vor Ort. In die Debatte um die Finanzen hat sich nun der FDP-Landtagsabgeordnete Dominik Spitzer eingeschaltet und einen Brief an Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) geschrieben. Catsam beklagt, dass es in Deutschland noch immer keine Regelung für die Suizidprävention gebe. Zwar werde derzeit darüber beraten. Für U25 in Nürnberg könnte das Ergebnis aber zu spät kommen.