Deutschland sei dabei, "eine neue Gesetzgebung zu implementieren und letztendlich auch einen neuen Umgang mit dem Thema Suizid zu entwickeln", sagte der Psychiater Andreas Reif der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Es gebe bislang keine Institution, die sich mit den Folgen befasse. "Wenn wir Suizidassistenz großflächig verfügbar machen, brauchen wir eine solche Institution aber unbedingt."
Gemeinsam mit der Stiftung Depressionshilfe
Reif ist Direktor des Frankfurter Projekts zur Prävention von Suiziden mittels Evidenz-basierter Maßnahmen (FraPPE). Die Forscher planen das Zentrum demnach gemeinsam mit der Stiftung Depressionshilfe. Eine Aufgabe des Zentrums wäre, eine verbesserte Datengrundlage zu erheben. "Wir wissen nicht, wo in Deutschland sich wie viele Menschen mit welchen Methoden das Leben zu nehmen versuchen."
So würden Anleitungen zur Selbsttötung in den Sozialen Medien ausgetauscht, wodurch sich "Trends" und "Hotspots" verfestigten. Dies müsse beobachtet werden, erklärte der Experte: "Wenn ein bestimmter Felsen in einer Chatgruppe als besonders geeignet identifiziert wird, sich in den Tod zu stürzen, kann ich diesen Felsen sichern." Der Einwand, dass Sterbewillige dann einen anderen Felsen suchten, treffe nicht zu: "Viele Suizide geschehen aus dem Moment heraus, und wenn es dann zu einer Intervention kommt, wird der Suizidversuch abgebrochen."
Die Forschungen hätten zudem gezeigt, dass viele Menschen nach einem Suizidversuch nicht in das "Hilfesystem" gelangten. Rettungsdienste, Polizei und Mediziner in Notaufnahmen sollten jeden Patienten nach einem Suizidversuch in einer psychiatrischen Klinik vorstellen, forderte Reif. Auch eine nationale Suizidhotline könne helfen.
Mehr Tote als durch Unfälle
Auf die Frage, ob man sich mit einer bestimmten Zahl an Suiziden abfinden müsse, betonte der Psychiater: "Keineswegs. In fast allen westlichen Ländern ist die Zahl der Selbsttötungen in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen, auch aufgrund verbesserter psychiatrischer Versorgung." Derzeit sei indes noch schwer abzuschätzen, wie sich die Corona-Pandemie auf die Zahl der Selbsttötungen auswirke. Jährlich sterben etwa 10.000 Menschen in Deutschland durch Suizid - mehr als durch Verkehrsunfälle, HIV/Aids und Drogen zusammen.
Zusätzliche Brisanz erhält das Thema durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung gekippt hatte. Die Selbsttötung gehöre zum Recht auf Selbstbestimmung, so die Karlsruher Richter. Das schließe auch die Hilfe Dritter ein. Ein neues Gesetz, das ein von den Richtern vorgeschlagenes Schutz- und Beratungskonzept ermöglicht, steht noch aus. Mehrere Gesetzentwürfe liegen vor.
Eine neue Rechtslage könne "zu einer Verharmlosung und Bagatellisierung von suizidalem Verhalten führen und vielleicht auch den einen oder anderen Menschen, der gar nicht sterben möchte, zu diesem Schritt bringen", warnte Reif. Es gelte, genau hinzusehen und ein Suizidpräventionsgesetz auf den Weg zu bringen, auch um die Finanzierung entsprechender Angebote sicherzustellen. Generell werde die Debatte "sehr davon dominiert, wie man selbstbestimmtes Sterben ermöglichen kann. Das ist aus meiner Sicht ein fast schon absurdes Framing. Der Fokus sollte darauf liegen, wie ich selbstbestimmtes Leben ermöglichen kann."