DOMRADIO.DE: Die Welt blickt im Moment vor allem auf den Ukraine-Krieg. Haben Sie den Eindruck, dass die Taliban das für neue Maßnahmen und Regeln im Land ausnutzt, weil jetzt keiner mehr so genau hinschaut?
Stefan Recker (Deutsches Büro der Caritas in Afghanistan): Diesen Eindruck habe ich nicht. Ich denke, das hat andere Gründe, unter anderem jetzt die demnächst bevorstehende Geberkonferenz, aber natürlich auch vielleicht innerparteiliche Streitigkeiten bei der Taliban-Bewegung. Ich glaube nicht, dass das was mit dem Krieg zu tun hat.
DOMRADIO.DE: Man hört aktuell von mutigen Frauen, die sich den Taliban-Regeln widersetzen, für Frauenrechte in Afghanistan demonstrieren. Haben die überhaupt eine Chance, sich durchzusetzen?
Recker: Ich glaube nicht. Das sind so wenige Frauen, dass es keine Kraft hat, sich irgendwie durchzusetzen. Die Taliban-Bewegung ist ja sehr frauenfeindlich. Ich glaube nicht, dass Frauen, die auf die Straße gehen und demonstrieren, von den Taliban besonders ernst genommen werden. Sie werden eher als Störung angesehen.
DOMRADIO.DE: Eine andere, neue Taliban-Regel besagt jetzt, dass Mädchen über 12 Jahren nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Was wollen denn die Taliban damit erreichen?
Recker: Das müssen Sie die Taliban fragen! Ich habe ja das seltene "Vergnügen", dass ich schon sozusagen unter "Taliban 1.0" in den 90er-Jahren in Afghanistan gearbeitet habe. Damals war es ja noch schlimmer. Da durften überhaupt keine Mädchen zur Schule gehen, also weder ab noch unter 12 Jahren.
Von daher ist diese jetzige Regelung, wenn man es so sagen darf, besser als das, was vor 25 Jahren der Fall war. Aber trotzdem geht es natürlich überhaupt nicht, dass man Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung verwehrt, egal welchen Alters
DOMRADIO.DE: Wie bekommen Sie denn jetzt aktuell die neuen Regelungen und Einschränkungen zu spüren? Was hören Sie von den Menschen in Afghanistan?
Recker: Wir haben nationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die natürlich besorgt über die Zukunft ihrer Töchter, ihrer Schwestern, überhaupt aller Frauen in Afghanistan sind. Diese Verschärfung der Regelungen bleibt bei den Frauen nicht stehen, zum Beispiel dürfen jetzt nur noch Männer in Ministerien oder in Regierungsbehörden reingehen, um da etwas zu erledigen, die einen "richtigen" Bart haben, der den Taliban-Vorstellung entspricht, und die einen Turban tragen. Das heißt also, westlich gekleidete, westlich frisierte Männer dürfen dort nicht mehr hineingehen.
Die Taliban verschärfen momentan ihre Regeln. Warum wissen wir nicht genau. Ich gehe davon aus, dass das mit talibaninternen Machtkämpfen zu tun hat. Es kann natürlich auch andere Gründe geben.
DOMRADIO.DE: Die USA hatten jetzt ein geplantes Treffen mit den Taliban abgesagt. Da sollte es um wirtschaftliche Hilfen gehen. Wie ist denn jetzt aktuell die Lage vor Ort beim Thema Hilfen und die Hilfsbereitschaft?
Recker: Die Hilfe läuft. Es geht um humanitäre Hilfe. Aber auch da ziehen die Taliban die Regeln an. Sie wollen sich immer mehr in die humanitäre Hilfe der Hilfsorganisationen einmischen. Das ist von Provinz zu Provinz verschieden.
Es gibt eine Provinz im Zentrum Afghanistans, wo der Provinzgouverneur gesagt hat, dass alle Hilfe im Prinzip über die afghanischen Behörden geleistet werden muss. Das heißt, die Hilfsorganisationen sollen Hilfsmaterialien, Gelder, einfach alles an die Behörden abliefern und können sich nur daneben stellen und zugucken.
Das ist bislang eine von 34 Provinzen in Afghanistan. Aber wir befürchten, dass es so eine Art Test ist, um zu schauen, wie die Reaktion der Hilfsorganisationen ist. Wir werden dagegen kämpfen und hoffen, dass wir uns durchsetzen können.
Denn es kann nicht sein, dass Hilfen über die Taliban-Bewegung geleistet wird, denn die werden natürlich einen Teil abzweigen und an ihre Kämpfer weitergeben. Das kann natürlich nicht sein.
Das Interview führte Florian Helbig.