1888 wurde das Deutsche Historische Institut in Rom gegründet, heute ein wichtiger "Kulturmittler" Deutschlands in Italien und beim Vatikan. Professor Martin Baumeister (65), der nach zwölf Jahren als Direktor des DHI sein Amt abgibt, spricht im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) über die Rolle von Geschichte gerade in Krisen- und Umbruchzeiten.
KNA: Professor Baumeister, auch wenn das DHI in Rom das älteste deutsche historische Auslandsinstitut ist - viele Menschen dürften es nicht kennen...
Martin Baumeister (Historiker und jahrelanger Leiter des DHI in Rom): Unsere Einrichtung wurde 1888 sozusagen als "Preußische Tankstelle im Vatikan" gegründet: Preußische Historiker wollten an die reichen Bestände der neu geöffneten Vatikanischen Archive in der Überzeugung, dass sie dort Schätze für die deutsche Nationalgeschichte finden. Heute fördern wir in erster Linie den wissenschaftlichen Nachwuchs in Geschichte und Musikwissenschaft, unterstützen Forschende bei ihren Recherchen in Italien und im Vatikan und verfolgen eigene Projekte. Dabei spielen in den letzten Jahren Digitalisierungsprojekte sowie Methoden und Fragen der digitalen Geisteswissenschaften eine immer größere Rolle.
KNA: Sind die digitalisierten Quellen dann für alle uneingeschränkt zugänglich?
Baumeister: Nein. Zum Beispiel haben wir einen wichtigen Bestand digitalisierter faschistischer Zeitungen und Zeitschriften, die man wegen ihrer aggressiv antisemitischen Inhalte nur bei uns im Institut konsultieren kann.
KNA: Inwieweit ist eine Einrichtung wie das DHI politischen Einflüssen ausgesetzt?
Baumeister: Wie verwundbar historische Auslandsinstitute sind, zeigt das DHI in Moskau. Die russische Regierung hat es im vergangenen Juni zur "unerwünschten ausländischen Organisation" erklärt und damit geschlossen. Schon vor dem Krieg war sein Fortbestand eine diplomatische Gratwanderung. Andere deutsche Einrichtungen, etwa in Beirut, Istanbul oder Neu Delhi, haben ebenfalls mit massiver politischer Einflussnahme zu kämpfen.
KNA: Spüren Sie in Rom eine Veränderung durch die rechtsnationale Regierung Meloni?
Baumeister: Wir in unserer Arbeit nichts. Auch Italien ist nicht gefeit gegen antideutsche oder antifranzösische Ressentiments. Allerdings sehe ich aktuell keinen Anlass zur Besorgnis, dass die Wissenschaftsfreiheit gefährdet ist.
KNA: Wie bewerten Sie den Umgang der Deutschen bzw. der Italiener mit ihrer faschistischen Vergangenheit?
Baumeister: Ein großes Themengebiet für uns seit Jahren sind Projekte der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Den Deutschen geht der Ruf voraus, Weltmeister in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Folgen zu sein, während man den Italienern gerne vorwirft, hier ihre Hausaufgaben nicht zu machen. Man verweist dann etwa auf den unbefangenen Umgang mit faschistischer Architektur und Denkmälern, das ist jedoch eine grobe Vereinfachung.
KNA: Können Sie als sogenannter Kulturmittler tatsächlich in die Gesellschaft hineinstrahlen?
Baumeister: Ja. So ist unser Institut an der Umsetzung der Empfehlungen der deutsch-italienischen Historikerkommission zu den Folgen des Zweiten Weltkriegs beteiligt. Hier betreuen wir zusammen mit italienischen Partnern Erinnerungs- und Dokumentationsprojekte, die vom Auswärtigen Amt finanziert werden und besonders auf lokaler oder regionaler Ebene eine wichtige Rolle spielen. Unter anderem ist jetzt ein Atlas der von den Deutschen verübten Massaker in Italien digital abrufbar.
KNA: Könnten neue Konflikte vermieden werden, wenn die Menschen Fakten aus der Geschichte stärker vor Augen hätten?
Baumeister: Geschichtswissenschaft ist überlebensnotwendig, aber auch ohnmächtig. Geschichte wird von vielen Akteuren produziert, zur Unterhaltung, aus ideologischen oder politischen Interessen heraus. Wir Historiker sind da nur eine Stimme unter vielen. Wir schreiben Fachbücher, die oft nur von Spezialisten gelesen werden. Nur wenige von uns erreichen eine größere Öffentlichkeit.
KNA: Das klingt resigniert...
Baumeister: Und trotzdem gehört Geschichte zur Selbstverständigung einer Gesellschaft. Geschichtsvergessenheit, wie wir sie auch in der Politik erleben, schadet gerade in Krisen- und Umbruchzeiten, angesichts von Fake News und dem Einfluss Sozialer Medien. Die Tatsache wird oft vergessen, dass historisches Wissen zum Grundwissen einer Gesellschaft gehört und die Geschichtswissenschaft uns Instrumente in die Hand gibt, um die Ideologisierung von Vergangenheit zu hinterfragen.
KNA: Woher kommt das?
Baumeister: Vielleicht ist ein Faktor die Entwicklung des Geschichtsunterrichts in Deutschland. Zudem ist das Interesse der Studierenden an Geschichte zurückgegangen. Das müssen wir zum Teil auf unsere Kappe nehmen, aber es gibt, so meine ich, eine gesamtgesellschaftliche Verschiebung in Deutschland. In Italien ist das wohl nicht so sehr der Fall, in Frankreich lässt sich sogar ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein der politischen Relevanz von Geschichte beobachten.
KNA: Wenn Sie auf Forschungsprojekte am DHI in der Zeit Ihres Direktorats zurückblicken - welche würden Sie hervorheben?
Baumeister: Besonders stolz bin ich auf ein Projekt zum "globalen Pontifikat" von Papst Pius XII. Es geht dabei um die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen die katholische Kirche im Zeichen des Kalten Kriegs und der Dekolonisierung mehr und mehr zum globalisierten Akteur wird und neues internationales Gewicht und Sichtbarkeit bekommt. An dem Projekt sind Hochschulen unter anderem in Oxford, in Fribourg, in Leuven sowie die Hebräische Universität Jerusalem beteiligt. Gerade dieses Pius-Thema weckt großes Interesse in der Fachwelt und weit darüber hinaus.