DOMRADIO.DE: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass das Geschlecht Christi in der Geschichte nie ein eigener theologischer Diskurs war. Woran mag das gelegen haben?
Anselm Schubert (Professor für Neuere Kirchengeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg): Das liegt daran, dass das männliche Geschlecht für den ganz überwiegenden Teil der Christinnen und Christen in den letzten 2000 Jahren völlig unstrittig war. Es waren immer nur relativ kleine Gruppen, einzelne Gelehrte, auch kleinere Kirchen gewesen, die da abweichende Meinungen entwickelt haben. Da Theologie, zumindest in der westlichen Christenheit, primär im akademischen Diskurs verhandelt worden ist, ist das nie ein eigener Diskurs geworden.
Ein Problem war es trotzdem. Deswegen finden wir immer wieder Spurenelemente solcher Diskussionen in den theologischen Diskursen der letzten 2000 Jahre. Aber es sind immer nur kleine, kurze Erwägungen, kurze Ausblicke, kurze Diskussionen, nie ein ganzer, eingeführter theologischer Diskurs.
DOMRADIO.DE: Also war da das Mainstream-Verständnis der Theologie, dass Jesus un- und übergeschlechtlich war und auch keusch gelebt hat. Sex und Jesus gab es eher nicht?
Schubert: Der Mainstream war und ist eigentlich immer noch in den großen christlichen Kirchen, dass Jesus ein Mann war, und ganz eindeutig keusch gelebt hat. Das verbindet man zwar gerne mit bestimmten Ansichten über die katholische Kirche und ihre Vorstellung von Sexualität.
Die Vorstellung, dass das männliche (und übrigens auch das weibliche) Geschlecht, wenn es in vollkommener Weise leben soll, keusch leben soll, das ist eine Vorstellung, die gar nicht ursprünglich aus dem Christentum kommt, sondern in der Antike allgemein verbreitet war. Die Vorstellung, dass man keusch lebe und damit sozusagen seine Lebensenergie allein in die Tugend, in die Arbeit für die Gesellschaft investieren sollte, ist eine Idee, die das Christentum aus der Antike übernommen hat. Und im Priestertum der katholischen Kirche ist dieses Ideal bis heute - wenn auch nur als Ideal - aufrechterhalten worden.
DOMRADIO.DE: Im Neuen Testament der Bibel steht nicht, dass Jesus keusch gelebt hat. Dass Jesus ein Junge war, kann man schon daraus schließen, dass er beschnitten worden ist und dass er in der Synagoge war. Die Synagoge durften damals ja nur Männer besuchen. Rein biologisch steht damit außer Frage, dass Jesus männlich gewesen ist.
Schubert: Ja, der historische Jesus war nach allem, was wir wissen, und so haben die Zeitgenossen ihn auch wahrgenommen, ganz sicher ein biologischer Mann. Was das allerdings für seine Geschlechtsidentität heißt, da sind schon die neutestamentlichen Gelehrten wieder ganz unterschiedlicher Meinung. Es gibt unter anderem Neutestamentler, die in der berühmten Rede Jesu über den Eunuchen vermuten, dass er womöglich von sich selbst gesprochen habe und irgendeine Art queerer Geschlechtsidentität angenommen oder behauptet habe - denn Eunuchen standen nach damaliger Ansicht außerhalb der natürlichen Geschlechtsordnung.
Mir geht es in meinem Buch aber weniger um den historischen Jesus, als um den Christus des Glaubens, also die normative Person, die in der Lehre der christlichen Kirchen in den Mittelpunkt gerückt ist. Und hier gibt es in den letzten 2000 Jahren ganz unterschiedliche Vorstellungen zu seinem Geschlecht.
DOMRADIO.DE: Sie schreiben, dass die Entwicklung weiblicher Christusvorstellungen seit dem Hochmittelalter auch daher kommt, dass Frauen damals zunehmend eine moralische und theologische Eigenwertigkeit zugesprochen wurde. Daraus entwickelte sich dann auch eine eigene weibliche Frömmigkeit. Heute sind allerdings Vorstellungen eines weiblichen Christus im theologischen Diskurs kaum noch verbreitet. Warum nicht?
Schubert: Im akademischen theologischen Diskurs sind sie nicht mehr verbreitet. Sie hatten eine kurze Hoch-Zeit in der feministischen Theologie der 80er und 90er Jahren, wo dann relativ schnell vor allem katholische Theologinnen wie die Feministin Mary Daly vor dem Hintergund der grundsätzlichen Patriarchatskritik am Christentum die Frage gestellt haben: Muss Christus eigentlich ein Mann sein? Was ist das für eine Religion, wo nicht nur der Schöpfergott, sondern auch der Erlöser ein Mann ist? Und ist das eigentlich das letzte Wort in der Sache? Damals sind tatsächlich sehr radikale Entwürfe vorgelegt worden, etwa die Vorstellung einer weiblichen Eröserfigur oder gar multipler Erlöserfiguren, die mehrere Personen umfassen können und dann eben auch Frauen.
Heute stellt sich die Sache wieder ein wenig anders dar, denn mit der neueren Geschlechterdebatte, Stichwort Judith Butler, sind wir weggekommen von der Identifizierung von biologischem Geschlecht und kulturellem Geschlecht. Heute sehen wir, dass das nicht identisch sein muss, sondern Geschlechtsidentitäten immer auch kulturelle Zuweisungen sind. Insofern verläuft die Debatte um die Geschlechtsidentität Christi heute weniger über die Frage: Ist er eine Frau, sondern eher über die Frage: Welche Geschlechtsidentität schreiben wir Christus eigentlich zu? Und da gibt es ganz unterschiedliche Ansätze.
DOMRADIO.DE: Spannend ist da auch die mystische Theologie seit dem 12. Jahrhundert. Besonders in den Frauenorden wird Christus zu einem himmlischen Bräutigam. Und da geht es dann durchaus auch erotisch und sehr körperlich zur Sache. Wie ist denn eigentlich die Amtskirche mit so einem erotisch aufgeladenen Jesusbild früher umgegangen? War das nicht eine Irrlehre?
Schubert: Die Amtskirche hat das weitgehend toleriert. Am Beispiel von Katharina von Siena, die die berühmteste und beliebteste Heilige des Mittelalters überhaupt ist und die behauptete, mit Christus vermählt worden zu sein, sehen Sie, dass die Kirche damit im Grunde überhaupt kein Problem hatte.
Der Punkt, an dem solche Vorstellungen umschlugen und dann als Häresie verfolgt wurden, war, wenn Personen oder Gruppen angefangen haben, die Lehrautorität der Kirche infrage zu stellen. Solange sich das alles im Rahmen einer kirchlich vermittelten Sakramentenfrömmigkeit oder kirchlich vermittelten Amtslehre bewegte, war das weitgehend unproblematisch.
Im Großen und Ganzen war im Mittelalter sowohl die erotische Aufladung des menschlichen Körpers Christi als auch die Vorstellung eines weiblichen Christus, also eines Christus mit Brüsten, ein Christus, der uns gebiert, der uns nährt, in der Kirche akzeptiert. Das ändert sich im Grunde erst mit dem 19. und 20. Jahrhundert, als solche Vorstellungen plötzlich als unnatürlich, irregulär und pathologisch galten und im Grunde aus dem theologischen Diskurs verschwinden.
DOMRADIO.DE: Hat das Geschlecht Christi überhaupt eine theologische Relevanz? Oder ist es, wie Sie Karl Rahner zitieren, nicht genauso unwichtig wie seine Haarfarbe, Augenfarbe oder Körpergröße?
Schubert: Wenn sie mich persönlich fragen, würde ich Karl Rahner selbstverständlich zustimmen. Das Geschlecht ist irrelevant. Nun leben wir aber in einer Welt, in der Geschlecht und Geschlechtsidentität extrem wichtig geworden sind. Und vielleicht lässt es sich als weißer, männlicher Akademiker der westlichen Welt leicht sagen, dass das männliche Geschlecht Christi keine Rolle spielt.
Für andere Gruppen in unserer Gesellschaft hat das Geschlecht Christi eine enorme Bedeutung. Erinnern sie sich nur an die Diskussion um die Zulassung von Frauen zum Priesteramt in der katholischen Kirche, die ja nun seit mindestens 1976 läuft und in der die Frage, welche Rolle das männliche Geschlecht Christi spielt, eine enorme Bedeutung erlangt hat. Es gibt Gruppen, für die die Geschlechtsidentität Christi eine enorme theologische und auch kirchenpolitische Bedeutung hat. Bis heute.
DOMRADIO.DE: Da wird die Vorherrschaft der Männer in der katholischen Kirche auch aus dem männlichen Geschlecht von Jesus abgeleitet?
Schubert: In der Tat. Nun ist aber interessant, dass die katholische Kirche, die sich auf die äußerlich erkennbare Männlichkeit Christi als ein notwendiges Muss für einen Priester fixiert, das mit Argumenten tut, die im Grunde aus der Moderne stammen. In der Antike hat man da ganz anders gedacht. Wenn Sie sich die griechischen und lateinischen Kirchenväter des 4. Und 5. Jahrhunderts anschauen, werden Sie feststellen, dass ihrer Theologie ein völlig anderes Geschlechtermodell zugrunde liegt, in dem es überhaupt keinen binären, absoluten Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt. Vielmehr ging man davon aus, dass es im Grunde nur ein einziges menschliches Geschlecht in verschiedenen Ausformungen gibt. Die Übergänge waren gleitend.
Von einer solchen Perspektive aus, die ja im Grunde sehr ähnlich der heutigen Perspektive von vielfältigen Geschlechteridentitäten ist, können Sie die Vorstellung der katholischen Kirche, wonach Männer von Männern repräsentiert werden können, nicht aufrecht erhalten.
Mein Buch will darauf hinweisen, dass es im Laufe der Geschichte des Christentums, auch innerhalb der katholischen Kirche ganz andere Entwürfe als Antwort auf die Frage gegeben hat: Was ist Geschlechtlichkeit, was macht sie aus und was bedeutet sie für Christus? Und was bedeutet sie vor allen Dingen für die Rollen, die wir in der Kirche und der Gesellschaft den jeweiligen Geschlechtern zuweisen?
DOMRADIO.DE: Heute gibt es kaum Überlegungen zu einer Geschlechtsidentität Christi, die nicht heteronormativ geprägt sind. Wäre es nicht nötig, hier weiterzudenken? Das zentrale Bekenntnis des Christentums ist doch, dass Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Das heißt aber nicht, dass er ein Mann sein muss?
Schubert: Vor allen Dingen hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, was wir denn eigentlich unter einem Mann verstehen? Wenn wir ein biologistisches Modell von Geschlechtsidentität haben, wie wir es aus den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts kennen, dann ist die Frage vielleicht schnell beantwortet. Aber sobald wir das hinter uns lassen und uns der komplexen Vielfalt von Geschlechterformen und -normen in der Gegenwart stellen, ist die Frage noch einmal neu aufzuwerfen.
Und interessanterweise wird sie ja auch von ganz unterschiedlichen Theologinnen und Theologen momentan bearbeitet. Denken Sie an den konservativen anglikanischen Theologen Graham Ward, oder die ebenfalls anglikanische Theologin Susan Cornwell, die an Fragen wie der Intersexualität Christi arbeitet. Wie müssen wir uns den Körper Christi eigentlich vorstellen, wenn wir das neutestamentliche Zeugnis ernst nehmen, dass die Kirche selbst der Körper Christi ist?
Das sind hochspannende Fragen, die natürlich auch wieder einen Reflex auf unseren Umgang mit dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens haben.
DOMRADIO.DE: "Gender" ist heute zu einem stark polarisierenden Kampfbegriff geworden. Nun versuchen Sie mit Ihrem Buch, die verschiedenen Sichtweisen des körperlichen Geschlechts durch die Jahrhunderte auch wissenschaftlich zu analysieren. Warum, denken Sie, ist so viel Dampf in der Diskussion, wenn es um das körperliche Geschlecht von Jesus geht?
Schubert: Spannend bei der Frage, welches körperliche Geschlecht Christus hat, ist die Tatsache, dass mit ihr Politik gemacht wird. Einen wichtigen Aspekt der Debatte, nämlich die Frage um das Priesteramt der Frau in der katholischen Kirche haben wir bereits kurz angesprochen. Es gibt aber auch ganz andere Bereiche, in denen das körperliche Geschlecht Christi verhandelt wird. Denken Sie an die esoterischen und neu religiösen Strömungen des 20. Jahrhunderts, in denen davon ausgegangen wird, Christus sei in "Wahrheit" natürlich mit Maria Magdalena verheiratet gewesen und womöglich gebe es sogar Kinder Jesu Christi, die sozusagen sein Erbgut bis in unsere Gegenwart hineintragen.
Das sind Verschwörungstheorien, wie wir sie aus den Romanen von Dan Brown kennen. Es gibt eine immer größer werdende Gruppe, die einen verheirateten Christus für historische Realität hält und daraus sehr merkwürdige Schlüsse zu ziehen bereit ist. Das geht von esoterischen, eher feministischen Theorien, die eine Vergöttlichung Maria Magdalenas anstreben, weil sie die Ehefrau Jesu war, bis hin zu radikal faschistoiden, rassistischen Theorien über die Nachkommen Jesu, die als arische Rasse unter uns leben. Und all diese Gruppen nutzen diese Narrative zur Kritik an dem, was sie für die herkömmliche Form des Christentums halten.
Es gibt also ganz unterschiedliche Gruppierungen, die das Geschlecht Christi heute zum Diskursgegenstand machen. Der Grund ist sicher, dass unsere heutige Gesellschaft über das Geschlecht, Geschlechtsidentität und Sexualität in einem Maße diskutiert, wie das bislang in keiner anderen Epoche in der westlichen Kultur der Fall war.
Das ist - und ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich das begrüße - sicher eine mittelbare Folge der Frauenemanzipation. Seitdem die Machtposition, die das Geschlecht im Diskurs einnimmt, kritisch hinterfragt wird, sind alle Fragen wieder offen.
Das Interview führte Johannes Schröer.