"Der spannendste Ort ist für mich das Radiostudio. Hier spielt man mit der Musik, arbeitet mit der eigenen Stimme und muss obendrein noch mit der Technik klarkommen." Wer Renardo Schlegelmilch auf seine Leidenschaft, die Vorliebe für den Hörfunk, anspricht, ist gleich mitten drin in den vielen Geschichten, die der neue Chefredakteur von DOMRADIO.DE zu erzählen hat. Denn der auf den ersten Blick eher besonnen wirkende 35-Jährige wird richtig lebhaft, wenn es um seinen ganz persönlichen Weg zum "Abenteuer Journalismus" geht und die vielen prominenten Gesprächspartner, denen er dabei im Laufe der Zeit schon begegnet ist. Dann berichtet er fesselnd von Auslandseinsätzen im Vatikan, aber auch in den USA, der Türkei, in Ägypten, Namibia, im Kosovo und im Nahen Osten. Oder er gibt Anekdoten zum Besten, die er mit den Großen dieser Welt erlebt hat.
Denn neben dem, was in der katholischen Zentrale geschieht und von Rom Auswirkungen auf die ganze Weltkirche hat, sind religiöse Krisenherde, Gewalt um Gottes Willen, zu Schlegelmilchs Spezialgebiet geworden. Und dann ist er am liebsten selbst vor Ort und damit unmittelbar nah dran am "Epizentrum" aktueller News, sucht gezielt seine Gesprächspartner aus und will sich mit unverstelltem Blick einen objektiven Eindruck verschaffen. Den Fokus auf das zu richten, was sich parallel zu deutsch-katholischer Befindlichkeit auch noch abspielt, der berühmte Blick über den eigenen Kirchturm hinaus, korreliert bei ihm mit dem Wunsch, das große Ganze im Blick zu behalten – und das immer mit dem Anspruch eines neugierigen, aber vor allem seinem Berufsethos verpflichteten Reporters. Saubere Recherche, unvoreingenommene Berichterstattung, informative Interviews sowie originelle und innovative Ideen – das zeichnet den trotz seines Alters früh arrivierten Moderator und Autor aus.
Radiomachen wird früh zur Passion
Schon als 13-Jähriger hat Schlegelmilch seinen Vater oft zum Offenen Kanal "Wartburg-Radio", die regionale Variante zum Bürgerfunk, begleitet und erste Radiosendungen produziert. Hier im thüringischen Eisenach, wo er geboren ist und in einem DDR-typischen Plattenbau aufwächst, schnuppert er zum ersten Mal Radioluft und bekommt schon bald Lust, das Ehrenamt auf professionelle Füße zu stellen, das Hobby zum Beruf zu machen. Zumal Radiomachen zur Passion wird – auch weil es hier um Akustik geht, er sich hinter dem Mikrofon verstecken kann und nicht das Offensichtliche sichtbar machen muss, nämlich dass er von Geburt an kaum sehen kann und eine starke Brille trägt – auf dem rechten Auge ist er blind, das linke hat eine Sehkraft von nur zehn Prozent. "Trotzdem habe ich mich immer als Glückspilz gesehen, weil mir das Wenige im Vergleich zu anderen viel erschien", kommentiert Schlegelmilch die genetisch bedingte Sehschwäche mit Gelassenheit. "So viel Glück hatte mein Vater nicht. Er ist völlig erblindet." Und launig fügt er noch hinzu: "Unter Blinden ist nun mal der Einäugige König."
Als er 2008 über ein FH-Studium nach Köln zu DOMRADIO.DE kommt, wird auch in der Redaktion weiter kein Aufhebens darum gemacht, dass der neue Mitarbeiter eine eigene App mit extra großer Schrift braucht und unterhalb Punkt 24 nichts erkennen kann. Vielmehr überzeugt der Medien- und Journalismus-Student mit gesundem Selbststand, Fleiß, jahrelanger Erfahrung und auch einer bereits erworbenen Expertise, die er nicht zuletzt mit verschiedenen Radio- und Rundfunkpreisen belegen kann. Er passt gut ins Team, bringt frischen Wind mit und neue Anregungen.
Auch für internationale Medien tätig
2014 wird ihm ein Volontariat angeboten, Kurse in der Katholischen Journalistenschule ifp in München absolviert er ergänzend dazu und fokussiert sich auf Einsätze im Hörfunk- und Online-Journalismus. Die komplexe Ausbildung sorgt für den letzten fachlichen Schliff. Dem Freiberufler öffnen sich mit einem Mal auch die Türen großer Medien. Neben seiner Arbeit bei DOMRADIO.DE bekommt er schließlich Aufträge vom WDR und vom Deutschlandradio, aber auch für das "America Magazine" in New York, "The Tablet" in London, die Deutsche Presse-Agentur in Berlin, den "National Catholic Reporter" in Chicago oder Radio Vatikan/Vatican News übernimmt er Reportagen.
Bis heute liefert er den deutschen Kollegen in der römischen Redaktion regelmäßig Berichte und Kommentare von Bischofssynoden, Papstreisen und anderen kirchlichen Großevents. Schlegelmilch gilt als gut vernetzt und meinungsstark – innerhalb der Kirche, aber auch in politische Kreise hinein. Von "Hilflosigkeit" – in seinem Schwerbehindertenausweis ist dafür ein "H" eingetragen – kann jedenfalls keine Rede sein. Schlegelmilch ist souverän und umtriebig, auf internationalem Terrain genauso selbstverständlich unterwegs wie im heimischen Köln und – sprichwörtlich – immer bestens im Bilde. Für ihn heißt das auch schon mal, die mangelnden optischen Fähigkeiten mit einer feinen Wahrnehmung und geschulten Merkfähigkeit – zum Beispiel bei Pressekonferenzen, wenn sich andere Notizen machen, er dafür umso konzentrierter zuhört – zu kompensieren.
"Ich habe früh geübt, auch für Zwischentöne ein offenes Ohr zu haben, mit ungeteilter Aufmerksamkeit dabei zu sein und mir alles Wesentliche zu merken. Das ist in meinem Job ohnehin das A und O. Und wichtige Zitate nehme ich auf Band auf", erklärt er. Trotzdem, räumt er ein, sei jede Reise eine große Herausforderung, weil der normale Alltag – gerade auch an Flughäfen und Bahnhöfen – nun mal aus viel Kleingedrucktem bestehe.
Ausgerechnet während der Pandemie, im Juni 2020, winkt dem journalistischen Nachwuchstalent eine Festanstellung als Redakteur, zunächst mit einem Zeitvertrag. Sein langjähriges Engagement für den Multimedia-Sender wird belohnt. Das Ziel, auf das er unermüdlich hingearbeitet hat – auch um als Schwerbehinderter wegen der fachlichen Leistung und nicht des körperlichen Handicaps akzeptiert zu werden – ist erreicht. Seine Beobachtung: "Im Journalismus gibt es kaum Menschen mit einer ausgeprägten Behinderung. Du musst definitiv mehr leisten, um dasselbe wie Nichtbehinderte zu erreichen, damit Dir der Job überhaupt zugetraut wird. Das kostet Anstrengung, jeden Tag neu. Aber einen Mitleidsbonus habe ich nie gewollt."
Alltagsbewältigung mithilfe modernster Technik
Immer wieder hat Schlegelmilch bei der Alltagsbewältigung Strategien entwickeln müssen, die fehlende Sehkraft auszugleichen, ohne dass sie ihm gleich auf der Stirn geschrieben steht. Mithilfe modernster Technik findet er sich inzwischen überraschend gut zurecht. Musste er früher in der Schule mit Vergrößerungshilfen und Lupen hantieren, immer mal wieder eine Sonderbehandlung in Anspruch nehmen, die ihn mitunter auch zum Außenseiter machte, spielen ihm inzwischen entsprechende Computerprogramme die Beiträge, die er selbst verfasst und layoutet, bedarfsgerecht aufs Display. "Bei der täglichen Textarbeit am Bildschirm spart das ungemein Zeit und schafft ganz nebenher ein ganz neues Lesevergnügen", so seine Erfahrung. "Ganz zu schweigen von den Fotos. Selbst den Papst im Kleinformat kann ich heute auf jede x-beliebige Größe ziehen und muss ihn nicht ausschließlich an seiner weißen Soutane erkennen", lacht Schlegelmilch.
Apropos Papst & Co: Ungeschminkt offen spricht Schlegelmilch darüber, dass er in die Kirchenthemen eher zufällig "hineingeschlittert" sei, bis zu seinem 20. Lebensjahr herkunftsbedingt religiös völlig "unbelastet" war. "Eigentlich war ich mehr auf 'Buntes' spezialisiert. Denn in meiner Heimat hatte ich mit Kirche keinerlei Berührung. So war das eben in der Nachwendezeit in Ostdeutschland – trotz zwölf Jahren evangelischen Religionsunterrichts."
Doch die tagtägliche Beschäftigung mit religiösen und kirchlichen Themen, auch der Austausch mit den Kollegen, zwingen ganz automatisch zur Auseinandersetzung, werfen Fragen auf, die er sich vorher nie gestellt hat, und machen offenkundig, dass es an "Erklärern" dieses katholischen Glaubens und seiner öffentlichen Relevanz zunehmend mangelt, wie Schlegelmilch feststellt. "Ich habe erlebt, dass es Christen darum geht, füreinander da zu sein und einzustehen, sich gegenseitig Mut zuzusprechen und zu trösten. In diesem Weltbild wollte auch ich Heimat finden und dazugehören."
Der damals 25-Jährige zieht die Konsequenz: Am ersten Adventssonntag 2014 lässt sich Renardo Schlegelmilch im Kölner Dom taufen. Heute gilt er als Experte für Kirche und Religion und sein Podcast "Himmelklar", von ihm im ersten Lockdown entwickelt, zählt zu den erfolgreichsten katholischen Medienprojekten der letzten Jahre. Die über 250 Interviews mit zum Teil illustren Gesprächspartnern aus Kirche, Gesellschaft und Politik werden tausendfach abgerufen und finden Anerkennung über den deutschen Sprachraum hinaus. Schlegelmilch macht sich einen Namen.
Vom Dom aus Nachrichten in die ganze Welt versenden
Zurück zum Radiostudio: Den Arbeitsplatz im vierten Stock des Domforums mit Panoramablick auf die imposante Westfassade der Kathedrale, die Domplatte und den immer quirligen Roncalliplatz im Süden empfindet jeder, der hier arbeitet, als Privileg. Nicht von ungefähr schwärmt auch Schlegelmilch fast demütig von den vielfältigen Möglichkeiten, die sich ihm hier jeden Tag neu in den weitläufigen Redaktionsräumen vis à vis der eindrucksvollen Gotik bieten. "Ich habe nicht nur einen äußerst spannenden Job unmittelbar im Schatten des Domes, ich freue mich auch jeden Tag neu darauf, von hier aus Nachrichten in die ganze Welt zu versenden und möglichst kritische, intelligente und einfühlsame Gespräche mit Menschen zu führen, die etwas zu sagen haben. Unter Live-Bedingungen ist das der Adrenalin-Kick pur, aber auch die Königsdisziplin. Denn nie weiß man, was als nächstes passiert." Und trotzdem sei das das höchste der Gefühle. Nun als Chefredakteur erst recht, betont der 35-Jährige. "Dazu bin ich bereit. Dazu stehe ich in den Startlöchern."