DOMRADIO.DE: Gestern Abend fanden zahlreiche Demonstrationen statt, nachdem der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu verhaftet wurde. Wie ist die Lage derzeit? Gehen die Menschen immer noch auf die Straße?

Marion Sendker (Journalistin, derzeit in der Türkei): Die Demonstrationen fanden nicht nur gestern Abend statt, sondern gingen auch noch bis in die Nacht hinein. Und das nicht nur in Istanbul, sondern landesweit. Auch heute sind weiterhin Demonstrationen geplant, die den ganzen Tag über bis zum Abend andauern sollen.
Hauptsächlich sind es Studenten, die dazu aufgerufen haben und auf die Straße gehen. Gerade diese Studentengruppe ist der Teil der Bevölkerung, den die Regierung am meisten fürchtet, da auch die großen Gezi-Proteste von 2013 von Studenten initiiert wurden. Bisher blieb es jedoch bei einigen Hundert bis Tausend Demonstranten. Es sind also noch nicht die Massen auf der Straße.
DOMRADIO.DE: Sie haben als Journalistin viel Kontakt zu den Menschen in der Türkei. Wie fällt denn die Reaktion dort aus? Was sagen die Leute?

Sendker: Viele sind schockiert. Einige haben zwar damit gerechnet, es war nur eine Frage der Zeit, aber die meisten sind dennoch überrascht. Dabei geht es vielen weniger um die Person Ekrem İmamoğlu selbst, sondern vielmehr um das, wofür er steht. Er ist ein Symbol der Opposition und steht für die Idee, dass es in der Türkei eine Alternative gibt. Viele sagen aber auch, dass er nur eine von vielen wichtigen und populären Persönlichkeiten ist, die nun verhaftet wurden.
In den letzten Wochen erleben wir in der Türkei eine Welle von Verhaftungen. Jeder, der eine kritische Meinung äußert, sei es aus den Bereichen Kunst, Kultur, Medien oder Politik, läuft Gefahr, verhaftet oder abgesetzt zu werden.
DOMRADIO.DE: Sind die Gründe für die Verhaftung von İmamoğlu völlig willkürlich?
Sendker: Es gibt im Wesentlichen zwei Hauptvorwürfe. Zum einen wird ihm vorgeworfen, eine kriminelle Organisation mit Anschuldigungen zu Finanzvergehen, Erpressung und Ähnlichem gegründet zu haben. Zum anderen behauptet man, er habe mit der PKK, einer als Terrororganisation eingestuften Gruppe, zusammengearbeitet und diese unterstützt. Terrorvorwürfe wiegen in der Türkei natürlich besonders schwer.
Es lässt sich für beides immer etwas finden, wobei die genauen Details nicht immer im Vordergrund stehen. Es gibt seit längerem Gerüchte, dass İmamoğlu nicht der lupenreinste Bürgermeister war, aber das bleibt spekulativ. Letztlich scheint es weniger um die genauen Vorwürfe zu gehen, wenn sich ein Grund nicht halten lässt, findet man einfach einen neuen. Das hat die türkische Justiz in der Vergangenheit auch schon mehrfach gezeigt.
DOMRADIO.DE: Glauben Sie, dass Erdogan mit den rabiaten Methoden und dem Regime weiterhin durchkommt?
Sendker: Die Regierung betont immer, dass sie damit nichts zu tun hat und dass die Justiz unabhängig sei. Das ist die offizielle Reaktion. Viele hier glauben das jedoch nicht. Seit Wochen gibt es immer wieder Verhaftungen, und das hat zu einer massiven Selbstzensur geführt.
Gleichzeitig steckt die Türkei in einer schweren Wirtschaftskrise und die Menschen haben immer mehr Probleme, sich das Nötigste zu besorgen. Essen und Miete sind deutlich teurer geworden, viele Lebensmittel kosten fast doppelt so viel wie in Deutschland, bei weitaus niedrigeren Löhnen. Viele sagen daher: Wenn ich auf die Straße gehe, protestiere oder kritisiere, was habe ich davon? In dieser Zeit kann ich nicht arbeiten und im schlimmsten Fall werde ich auch noch festgenommen. Daher entscheiden sich viele, es zu lassen. Sie sehen keine Möglichkeit, etwas zu ändern. Das führt dazu, dass die Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan immer weniger Widerstand erfährt.
DOMRADIO.DE: Blicken wir mal noch ganz kurz auf das Thema Religion. Wie verhalten sich die Christen in der Türkei? Halten sie sich eher zurück?
Sendker: Die Christen halten sich in der Regel eher zurück. Man lässt sie gewähren und viele sagen, dass es ihnen unter der islamisch-konservativen Regierung von Erdogan besser geht als unter früheren, eher säkularen Regierungen. Allerdings ist es schon mehr als 20 Jahre her, dass eine andere Regierung an der Macht war.
Die Christen sehen sich oft in der Rolle des Gastes. Seit über einem Jahr gibt es verstärkten Schutz. Jede Kirche wird bewacht und die Polizei patrouilliert. Das hängt mit einem Anschlag im Norden Istanbuls vor mehr als einem Jahr zusammen. Seitdem achtet der Staat verstärkt darauf, dass so etwas nicht wieder passiert. Im Gegenzug halten sich die Christen zurück. Sie sagen, dass Politik nicht ihre Sache sei und leben ihren Glauben weiter, ohne sich groß einzumischen.
Das Interview führte Oliver Kelch.