Christine Bergmann gibt Sitz in Aufarbeitungskommission ab

"Missbrauchsopfern wollte man lange nicht zuhören"

Sie war Berliner Bürgermeisterin, Bundesfamilienministerin und erste Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. Lange Jahre gehörte Christine Bergmann auch der Aufarbeitungskommission an. Ihren Sitz gibt sie nun ab.

Autor/in:
Birgit Wilke
Christine Bergmann ist Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs / © Harald Oppitz (KNA)
Christine Bergmann ist Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs / © Harald Oppitz ( KNA )

Die SPD-Politikerin Christine Bergmann ist niemand, der Herausforderungen aus dem Weg geht. Als die damalige Bundesregierung nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche 2010 eine kompetente Ombudsfrau suchte, zögerte sie nicht lange und sagte zu. Sie baute die Stelle auf, hörte unzähligen Opfern zu und arbeitete Empfehlungen aus, wie Betroffene besser unterstützt werden können.

Christine Bergmann

"Wir müssen den Betroffenen zuhören, zuhören und noch mal zuhören"

Das Thema ließ sie nicht los, obwohl sie die Aufgabe als Missbrauchsbeauftragte längst ihrem Nachfolger übergeben hat: Seit 2016 engagierte sie sich in der bundesweiten Aufarbeitungskommission und kümmerte sich vor allem um das Schicksal derjenigen, die wie sie aus der DDR kommen. 

Den Sitz in dem Gremium gibt die 84-Jährige nach sieben Jahren zum Jahresende ab. Ihre wichtigste Erfahrung aus den vergangenen Jahren: "Wir müssen den Betroffenen zuhören, zuhören und noch mal zuhören", so erzählt sie in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). 

Verbundenheit mit Ostdeutschland

Bergmann wurde am 7. September 1939 in Dresden geboren. Ihre frühesten Kindheitserinnerungen sind die Luftangriffe auf die Stadt an der Elbe am 13. Februar 1945. Zwei Brandbomben seien auf das Wohnhaus gefallen, erzählte sie in einem Interview. "So ein Erlebnis wird man nie los." 

Dresden / © Mistervlad (shutterstock)

Wie so viele Regierungsverantwortliche in Ostdeutschland ging Bergmann erst nach der Wende in die Politik. In der DDR hatte sie Anfang der 1960er Jahre ein Pharmaziestudium abgeschlossen und war viele Jahre am Institut für Arzneimittelwesen tätig. Im Jahr der friedlichen Revolution 1989 wurde sie mit 50 Jahren an der Humboldt-Universität in Berlin promoviert. 

Politische Karriere ging Schlag auf Schlag

Mit ihrer politischen Karriere ging es dann Schlag auf Schlag: An der Mauer der Gethsemane-Kirche im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg sah sie einen Hinweis auf die Gründung der SDP, einer sozialdemokratischen Partei in der DDR, die sich nach einigen Monaten mit der West-SPD vereinigte. 

Bald gehörte Bergmann der Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung an. Bereits 1991 wurde sie ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt und schließlich Senatorin für Arbeit und Frauen und Berliner Bürgermeisterin. Die SPD wurde auf Dauer zu ihrer parteipolitischen Heimat.

Nach dem Regierungswechsel von 1998 auf Bundesebene war sie bis 2002 Familienministerin in der ersten rot-grünen Bundesregierung. Die Frau aus dem Osten, die selbst als Mutter von zwei längst erwachsenen Kindern, von Enkeln und einem Urenkel stets berufstätig war, tat viel für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 

Aus dem Erziehungsurlaub wurde die Elternzeit, die beide Elternteile auch gleichzeitig nehmen konnten. Zudem wurde das Recht von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert. 

Ernennung durch Angela Merkel zur ersten Missbrauchsbeauftragten

Sie hatte sich schon weitgehend aus der Politik zurückgezogen, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sie schließlich 2010 zur ersten Missbrauchsbeauftragten ernannte. Bergmann setzte sich dafür ein, dass die Stelle nicht nach gut einem Jahr wieder weg fiel, sondern verlängert wurde und inzwischen dauerhaft eingerichtet ist. 

Auch nach ihrem Rückzug aus dem Amt engagierte sie sich weiter für das Thema. Als 2016 eine bundesweite Aufarbeitungskommission eingerichtet wurde, gehörte sie zu den ersten Mitgliedern. Neben ihrem Einsatz für Betroffene, die in der DDR Missbrauch erlitten hatten, mahnte sie als Protestantin, Verantwortliche in ihrer Kirche Missbrauchsfälle aufzuarbeiten. 

Kathedrale in Santiago de Compostela / © Sergey Golotvin (shutterstock)
Kathedrale in Santiago de Compostela / © Sergey Golotvin ( shutterstock )

 

Vom Pilgervirus infiziert

Ab dem kommenden Jahr bleibt dann mehr Zeit für ihre große Leidenschaft, das Wandern. Auch um den Tod ihres Mannes zu verarbeiten, den sie bis zuletzt pflegte, nahm sie bereits vor rund zehn Jahren eine Auszeit, so erzählte sie im KNA-Interview. 

Sie erinnerte sich an ein Ministertreffen in Santiago de Compostela und an die vielen Pilger. Gemeinsam mit ihrem erwachsenen Enkel machte sie sich selbst auf dem Weg und wurde "vom Pilgervirus infiziert", wie sie erzählt. Mehrere Wege ist sie inzwischen gelaufen. 

Ihr nächstes Ziel: Die Überquerung der Alpen. Allerdings erst mit einem neuen Hüftgelenk, sagt sie. Und anders als beim Pilgern nach Santiago will sie dann ihr Gepäck nicht mehr selbst tragen.

Chronik der Missbrauchs-Aufarbeitung bundesweit und in Freiburg

Januar 2010: Der Jesuit Klaus Mertes macht öffentlich, dass es an seiner Schule in Berlin sexualisierte Gewalt und Missbrauch gab - und die Fälle lange verschleiert wurden. Der Skandal löst eine Welle von Enthüllungen in der Kirche und in anderen Institutionen aus.

Februar 2010: Die katholischen Bischöfe bitten bei ihrer Vollversammlung in Freiburg um Entschuldigung. Ein Sonderbeauftragter (Bischof Stephan Ackermann aus Trier) wird benannt, eine Hotline für Betroffene eingerichtet.

Blick auf ein Wandkreuz während der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising / © Sven Hoppe (dpa)
Blick auf ein Wandkreuz während der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising / © Sven Hoppe ( dpa )
Quelle:
KNA